Hannahs Briefe
Promenade spazieren gingen. Jetzt war sich Max sicher: Irgendetwas zwischen den beiden war seltsam. Sehr seltsam. Wer sie eingehakt und ins Gespräch vertieft sah, bemerkte nicht die Risse, die sich erst im Zusammenleben offenbarten. Es gab eine ständige, wenn auch unterschwellige Spannung hinter ihrem Lachen, den gegenseitigen Komplimenten und eigenartigen Ritualen, als balancierten die beiden auf einem dünnen Seil, das durch eine allzu schroffe oder anmaßende Geste jederzeit reißen könnte. Aber was solltegroß passieren, außer, dass sie aufeinander losgingen?
Hannah und Guita wollten sich weismachen, dass sie immer noch dieselben seien wie in Polen und nicht zwei erwachsene Frauen, an denen die Zeit nicht spurlos vorübergegangen war. Sie waren in ihrem Protokoll gefangen, den vielen überholten Maßstäben, die sie nicht auf den neuesten Stand bringen konnten. Manchmal wiederholten sie Gesten und Sätze wie in einem Refrain, eingeübte Szenen, die einer Farce nahekamen. Waren Guitas Entgleisungen vielleicht Symptome dieser Misere, die Schmerzen einer unmöglichen Geburt?
Guita und Hannah waren Geiseln ihrer räumlichen Distanz. Sie hatten keine Zeit für riskante Operationen wie Gefühlsausbrüche oder tiefer gehende Fragen. Sie mussten praktisch und effizient handeln, ohne irgendwelche Vorbehalte, die ihnen das Leben im Exil verdarben. Schließlich würden sie in drei Tagen wieder für wer weiß wie viele Jahre getrennt sein. Dann würden sie sich wieder zuckersüße, kindliche Briefe schreiben, Loblieder aufeinander singen und sich romantische Versprechen geben. Vielleicht funktionierte ihre Liebe nur auf Distanz, und sie waren nur zusammengekommen, um den Grundstein für die Wehmut einer letzten Umarmung und die Sehnsucht nach einer nächsten zu legen. Vielleicht war dieses Sehnen das Geheimnis ihrer Beziehung. In Wirklichkeit hingen sie beide von dieser Liebe ab, und sie war immer noch stärker als die Verrenkungen, die sie mitsich brachte. Deswegen wurden sie nicht müde, sich dieses Gefühls zu versichern, das sie vereinte, aber auch trennte. Ein erlittenes Paradox.
Als der Wagen vor dem Casino Atlântico hielt, stiegen Guita und Jayme zuerst aus. Hannah wollte Max helfen, aber er schob sie weg.
»Ich geh lieber allein.« Er rammte die Krücken in den roten Teppich. »Wozu die Situation unnötig verschlimmern?«
Hannah hob die Augenbrauen. Einen Moment lang dachte Max, sie hätte Fiktion und Realität verwechselt.
* * *
Weit und breit war kein einziger Baum zu sehen, der ihnen in ihrem Leid hätte Schatten spenden können. Es waren um die zwanzig Polackinnen, die meisten von ihnen im Ruhestand und stets zu Diensten, wenn eine Beerdigung auf dem Friedhof von Inhaúma anstand. Jemand hatte bereits die Psalmverse der Schloschim rezitiert, ein paar Geschichten erzählt und ein Manifest gegen das Auftreten der Polizei im Rotlichtbezirk vorgelesen. Als die Zeremonie zu Ende war, breiteten Fanys Freundinnen ihre Tücher aus und veranstalteten ein Picknick mit Früchten, Kuchen und Sandwiches. Leben und Tod waren hier aus demselben Garn gestrickt. Max erklärte, er sei da, um Hannah zu vertreten, die aus »persönlichen Gründen« nicht kommen könne.
»Wie geht es ihrer Schwester?«
Alle wussten Bescheid.
»Sie sind nach Petrópolis gefahren«, gestand Max.
Eine Frau kam auf ihn zu.
»Haben Sie den Brief gelesen, den ich Ihnen gegeben habe?«
»Welchen Brief?«
»Von Fany.«
Max fiel der Umschlag ein, der noch in einer seiner Hosentaschen steckte.
»Lesen Sie ihn«, riet ihm die Frau. »Dann wird Ihnen einiges klar werden, Senhor Kutner.«
Max antwortete nicht, er betrachtete die marmornen Grabsteine, die alle sehr sauber waren und hebräische Buchstaben und religiöse Symbole trugen. An jedem Stein gab es ein Foto des Verstorbenen und einen Kerzenhalter. Eine alte Frau säuberte die Halter mit einem Spachtel, sie kratzte das Wachs heraus und zündete neue Kerzen an. Eine andere Frau wies einen Totengräber an, die Wege zu fegen und den Mangobaum zu kappen, von dem aus die Vögel die Gräber beschmutzten.
Die Polackinnen hatten eine ziemlich unbefangene Art, mit dem Tod umzugehen, vielleicht, weil in ihrem Leben sowieso alles provisorisch war. Dank dieser Unbefangenheit war Inhaúma ein sehr heimeliger Friedhof, mühsam erkämpft von den Heldinnen, die dort ruhten, den Matriarchinnen ihres Gelobten Landes.
Die Frau bedrängte Max so lange, bis er versprach, Fanys Brief zu lesen, sobald er
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