Hannahs Briefe
notwendiges Übel auf Fortunas Wegen erkannt, Splitter aus dem rohen Stein, aus dem das Glück gemeißelt war.
Am Abend zuvor rief Max Hannah an und bat scheinbar gelassen um eine Erklärung für ihre Einladung.
»Ich bereite gerade das Fleisch vor, ich kann jetzt nicht reden. Magst du Reis mit Rosinen?«
Und als Max nicht lockerließ, sagte sie mit verstellter Stimme: »Es war einmal ein Mann, der war so neugierig, dass er es einfach nicht abwarten konnte, etwas zu erfahren. Weißt du, was mit ihm passiert ist?«
»Nein …«
»Er musste so lange warten, bis der Moment gekommen war.« Dann legte sie auf.
Es war zwanzig nach sieben, Max stand an der Marquês de Abrantes und wartete vergeblich auf ein Taxi. Dreck! Um sich abzulenken, warf er einen Blick auf die betrunkenen Männer und Frauen, die in der Eckkneipe in karnevaleskes Treiben verstrickt waren. König Momo entstaubte bereits seinen Thron, und seine Untertanen würdigten ihn von Copacabana bis hoch in den Norden der Stadt. Als endlich ein Taxi kam, war es halb acht. Max war erleichtert und wollte gerade einsteigen, als plötzlich ein schwarzer Wagen hinter ihm bremste und drei Männer heraussprangen.
»Max Kutner?«, fragte einer.
Der Schuhmacher brauchte nicht zu antworten, denn der Fahrer des Wagens nickte den anderen zu. Als die Männer ihn packten, glitt ihm die Flasche aus den Händen und zersprang auf dem Bordstein. Jemand bekreuzigte sich, und die Kneipengäste hielten inne und sahen mit an, wie der arme Kerl in das Fahrzeug gezerrt wurde, das mit quietschenden Reifen davonraste. Sofort riefen alle durcheinander: wer, was, wann, warum? Ein Kommunist, war sich einer der älteren Männer sicher. Wie schrecklich, murmelten die Frauen, und die Kindermädchen beruhigten ihre Schützlinge. Aber man hatte sich an die Auswüchse der Diktatur gewöhnt, und da die Polizei die Gegend kontrollierte, hörte das Gerede bald wieder auf, und die Scherben der Weinflasche wurden mit einem Besen aufgekehrt. In der Kneipe erklang ein Lied von Lamartine Babo, gleich darauf wiegten sich die Hüften im Takt. »Deine Haare können es nicht leugnen, Mulata / Dass du eine Farbige bist / Aber da deine Farbe nicht abfärbt, Mulata / Will ich deine Liebe, Mulata.«
* * *
Der Lärm der Propeller war ohrenbetäubend.
»Wasser, Senhor Kutner?«
Max antwortete nicht, er saß völlig apathisch auf seinem Sitz. Der Polizist goss den Inhalt seiner Feldflasche in ein Glas.
»Trinken Sie, Senhor Kutner.«
»Ich will nicht.«
Unter ihnen funkelten die Lichter der Autos, rot in die eine Richtung, gelb in die andere. Sie hatten die Baía de Guanabara überflogen und umkreisten jetzt den Zuckerhut. Dann ging es weiter über Copacabana und an der Christusstatue vorbei in Richtung Südwesten. Der Pilot überprüfte den Kurs und berechnete eine Flugdauer von drei Stunden bis Santos.
»Sehen Sie da oben? Das ist der Mars, der rote Planet. Am besten schicken wir die Kommunisten alle da hoch!«
Der Pilot und der Polizist lachten, Max nicht. Im Norden waren die Berge vom Leuchten der Vororte umringt. Die Stadt glitzerte, so weit das Auge sah. Max hätte losbrüllen, das Fenster einschlagen und hinausspringen können. Du wirst die Stadt nie wiedersehen, schienen die Sterne zu sagen. Nie wieder.
»Ganz ruhig, Senhor Kutner, morgen sind Sie zurück. Ist nur ein kurzer Auftrag.«
Der Polizist wiederholte seine Litanei: Ein »Haifisch« sei in die Fänge der Spionageabwehr geraten, es bestand äußerste Dringlichkeit. Ja, der Schuhmacher kannte die Geschichte in- und auswendig, in kurzer Zeit würde Leutnant Staub ihn mit geröteten Wangen und patriotischen Gesten empfangen und ihm etwas von »Souveränität« und »nationaler Sicherheit« und so weiter erzählen.
Zur Hölle damit! Max war in seiner eigenen Souveränität verletzt worden. Was sollte für ihn wichtigersein als Hannah? Nie zuvor hatte er die Nazis, Kommunisten und Kapitalisten so sehr gehasst wie jetzt. Er roch noch nach Parfüm, seine Fingernägel waren geschmirgelt und gewachst. In einem donquichottischen Winkel seiner Seele verbarg sich ein letzter Rest Fröhlichkeit, belagert von der Vernunft wie die Märtyrer in der Festung Massada.
Er stellte sich vor, wie Hannah am gedeckten Tisch auf ihn wartete, wie das Essen kalt wurde und der Zweifel langsam in Traurigkeit umschlug, ihre vergeblichen Anrufe, die Kerzen, die unberührt in den Leuchtern standen. Er sah sie vor sich, wie sie allein den Reis aus dem Topf aß und
Weitere Kostenlose Bücher