Hannas Wahrheit (German Edition)
Bildern entgegen. Sie kannte diesen Verlust von Unschuld in den Augen eines Kindes. Genauso erkannte sie den Schmerz in ihrem Lächeln.
Harald Winter kam mit Ochuko Mutai aus dem Haus und mahnte zum Aufbruch. Sie verabschiedeten sich von seiner Schwester, Hanna strich dem Jungen über seinen Lockenkopf und unterdrückte das Bedürfnis, ihn in die Arme zu schließen. Sie selbst hätte es nicht gemocht, wenn jemand Fremdes so etwas tat. Sie wollte die Würde des Kindes respektieren. Gemeinsam gingen sie zum Wagen zurück, der ein Stück abseits des Dorfes an einer Wegkreuzung in den Büschen stand. Die Männer beide mit ihren Rucksäcken, während sie ihren Gurt trug und die Kamera an ihrem Hals hing. Ihren großen Rucksack hatte sie im Wagen gelassen.
Hanna drehte sich um, der kleine Junge sah ihr nach. Sie hob die Hand und winkte ihm. Es war mehr ein Reflex, der sie die Kamera hochnehmen ließ. Sie betätigte den Auslöser, lächelte, als sie das Grinsen des Jungen ganz nahe vor ihren Augen sah. Durch das Objektiv nahm sie eine Bewegung hinter den Häusern wahr, die rechts von dem Jungen lagen. Dann ging alles sehr schnell. Männer in Tarnkleidung brachen aus den Büschen und hinter den Häusern hervor. Entsetzte Schreie drangen an ihr Ohr. Sie erstarrte, versuchte zu begreifen was gerade geschah. Hanna fühlte, wie jemand an ihrem Hemd zerrte, sie verlor ihren Halt. Erst als sie sich hinter dem Wagen befanden, ließ Harald Winter sie los.
„Oh Gott, wir müssen hier weg“, keuchte er. „Wo, verdammt noch mal, ist Ochuko?”
Während Harald Winter zur Beifahrertür des Wagens robbte, linste Hanna hinter dem Hinterrad zum Dorf zurück. Schüsse knallten, Kinder, Frauen und Männer brachen getroffen zusammen. Mit zitternden Fingern nahm sie die Kamera, ging in das Menü und wählte den Mehrfachauslöser. Als sie den Kopf hob, sah sie, wie sich Ochuko Mutai geduckt in den Büschen zum Dorf vorarbeitete. Hastig setzte sie sich in Bewegung, es gab nur noch einen Gedanken für sie: Die Kinder, sie musste die Kinder retten.
Sie folgte Ochuko Mutai, der bereits den Rand des Dorfes erreicht hatte, und ignorierte die gepressten Rufe von Harald Winter, zum Auto zurückzukommen. Ochuko Mutai versuchte, seine Schwester mit einer Handbewegung zu stoppen, als diese völlig verängstigt aus dem Haus kam. Zu spät, ein einzelner Schuss war zu hören, mit einem staunenden Blick brach sie zusammen. Hanna beschleunigte ihr Tempo, als sie sah, wie der kleine Junge, mit dem sie fotografiert hatte, in die Schusslinie der Angreifer geriet, gleichzeitig drückte sie den Auslöser auf ihrer Kamera. Jemand stoppte ihren Lauf, riss sie nieder. Sie wand sich in dem Griff und wehrte sich, dann war sie wieder frei. Sie rappelte sich auf, doch es war zu spät. Der Junge lag bereits am Boden.
Hanna spürte ein Brennen in den Augen, ohnmächtig fühlte sie sich niedergedrückt. Voller Zorn hob sie die einzige Waffe, die sie besaß, an ihr Auge. Sie nahm ihr Ziel ins Visier und fotografierte. Schwenkte nach rechts, schwenkte nach links, während die Kamera in einem Staccato ein Bild nach dem anderen schoß. Durch das Objektiv sah sie, wie sich die Waffe eines Angreifers auf sie richtete. Ihrem Tod ins Auge blickend, ließ sie ihren Finger auf dem Auslöser, der in Bruchteilen von Sekunden ein Bild nach dem anderen machte. Sie hörte Schüsse und wartete darauf, dass die Kugel in ihren Körper eindrang, doch stattdessen brach der Mann in ihrem Objektiv zusammen. Bevor ihr Verstand die Information verarbeiten konnte, wurde sie zu Boden gerissen. Staub wirbelte um sie herum auf, der Luftwirbel eines Hubschraubers drückte sie zu Boden. Eine Explosion geschah, und eine Hitzewelle schwappte über sie hinweg. Jemand zerrte an ihren Beinen und zog sie aus der Gefahrenzone. Erneut wehrte sie sich, dann traf sie etwas am Kopf und sie verlor das Bewusstsein.
Major Ben Wahlstrom betrachtete die Satellitenbilder vor sich auf dem Tisch. Eindeutig war zu erkennen, wie sich eine militärische Einheit auf ein Gebiet zu bewegte, das sich nahe einer großen Erdölförderanlage befand. Als sechstgrößter Erdölproduzent stand Nigeria im Blickpunkt der internationalen Staatengemeinschaft. Trotz demokratischer Strukturen litt Nigeria unter wirtschaftlicher Korruption und militanten Gruppierungen. Auch in Deutschland gab es ein reges wirtschaftliches Interesse an Nigeria. Zwar gab es kein offizielles Truppenkontingent des deutschen Militärs im Land, doch im
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