Hannas Wahrheit (German Edition)
ernsten Blick. Um ihren Mund war ein trauriger Zug, und wenn sie lachte, lag immer auch Vorsicht darin.
An der Art, wie sie mit den Kindern umging, war Hanna ziemlich schnell klar geworden, dass keines davon ihr eigenes war. Sie fragte sich, weshalb jemand zehn Kinder betreute. Eine weitere Sache fiel ihr auf. Obwohl das Dorf fernab jeder größeren Stadt lag, waren die hygienischen Bedingungen ausgezeichnet. Es gab eine Wasserpumpe im Haus und Strom, die Kinder waren sauber und ordentlich gekleidet, die Fingernägel geschnitten, die Haare kurz oder geflochten. Der Staub, der ihre Reisegruppe den ganzen Tag verfolgt hatte, war aus dem kleinen Haus verbannt.
Harald Winter, hatte sein Notizbuch aus seinem Rucksack herausgezogen und zu schreiben begonnen, während sich das Gespräch zwischen Ochuko Mutai und seiner Schwester einem neuen Thema zuwandte. Die Stimmen der beiden wurden leiser. Ihr Blick streifte immer wieder Hanna Rosenbaum, die still aß. Schon bei der Begrüßung war ihr aufgefallen, wie Rukia Mutai sie mit großen Augen betrachtete und ihren Bruder etwas fragte. Ochuko Mutai hatte ihr ebenfalls einen Blick zugeworfen, die Stirn gerunzelt und seiner Schwester dann ihren Namen genannt. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie in irgendeiner Form der Gegenstand, des leise geführten Gespräches zwischen den Beiden war. Hanna fühlte sich wie eine Lauscherin, obwohl sie kein Wort verstand. Andere, scheue Blicke streiften die weißen Besucher. Als Hanna Grimassen zog, kicherten die Kinder hinter vorgehaltenen Händen. Sie waren wirklich gut erzogen. Hanna wusste nicht, was sie an den Kindern irritierte. Nachdenklich holte sie ihre Kamera heraus. So rückte sie jeder Frage in ihrem Leben auf den Pelz, mit der Distanziertheit durch das Objektiv ihres Fotoapparats nahm sie Abstand und richtete den Fokus auf den Wesenskern des Motivs. Egal ob es eine Landschaft, Tiere oder Menschen waren.
Sie begann, Bilder von den schokoladenbraunen Augen der Kinder zu machen, die neugierig auf ihre Kamera gerichtet waren. Sie stand auf und bat die Kinder, ihr nach draußen zu folgen. Ein fragender Blick zu Rukia Mutai, und als sie nickte, kamen die Kinder hinter Hanna Rosenbaum hergelaufen. Der Reiz des Neuen hielt aber nicht lange an, bald waren alle in das nächste Spiel vertieft. Nur ein Junge beobachtete sie neugierig, als sie weiter Bilder machte.
Auf dem Display des Fotoapparates zeigte sie ihm die Fotos. Dann fragte sie ihn in Zeichensprache, ob er es selbst probieren wollte. Der Junge nickte. Sie erklärte ihm die Kamera und stellte sich als Motiv zur Verfügung, was sie normalerweise nie tat. Sie hasste es, sich selbst auf Bildern zu sehen. Es war ein Gefühl von Schutzlosigkeit und Nacktheit, das sie dabei überfiel, als würde jemand ihren Panzer durchdringen.
Als der Junge einige Bilder gemacht hatte, nahm sie ihre Kamera zurück. In dem Display zeigte sie ihm seine Bilder. Er besaß ein natürliches Gespür für die Proportionen eines Porträts. Sie streckte ihre Hand aus, und gemeinsam gingen sie ein Stück hinter das Haus. Verblüfft hielt sie inne, als sie den ordentlich angelegten Garten sah. Der Junge grinste, ergriff noch einmal ihre Hand und führte sie zu einem kleinen Beet mit Bohnen. Er zeigte auf sich, dann auf die Bohnen. Sie verstand. Aufmerksam betrachtete sie die Pflanzen und fand eine kleine Raupe. Sie hob ihre Kamera an das Auge, fokussierte das kleine Tier und drückte ab. Als Nächstes gab sie dem Jungen die Kamera und deutete auf die Raupe. Der Junge nickte eifrig und begann zu knipsen. Indem sie ihre Bilder verglichen, verstand der Junge, was er anders machen musste, um bestimmte Effekte zu erzielen. Er lernte schnell.
Gemeinsam machten sie sich auf die Jagd nach anderen Motiven. Durch das Objektiv entstand eine neue Welt vor ihren Augen, der Garten wurde zu einem Abenteuer voller kleiner Wunder. Dann nahmen sie sich die Hütte von außen vor, fanden Ritzen, Holzstrukturen und Farbschattierungen. Als sie gerade ein Foto von der Haustür machten, riefen die Kinder den Jungen. Seine Augen wanderten zwischen ihr und den Kindern hin und her, Hanna lächelte, nahm ihm die Kamera ab und jagte ihn zu seinen Spielkameraden.
Sie machte noch ein paar Fotos von den spielenden Kindern, und plötzlich verstand sie, was sie an den Kindern irritierte. Es waren keine unschuldigen Kinderaugen, die sie durch ihr Objektiv sah. Mit einem tiefen Ernst, einer Weisheit und Traurigkeit blickten sie ihr aus den
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