Hannas Wahrheit (German Edition)
seines Mundes, in der Art, wie er sein Kinn ein Stück vorschob. Er hatte eine Fährte aufgenommen, und wenn ihr Stiefvater tatsächlich bei all dem seine Finger im Spiel hatte, würde er nicht eher ruhen, bis er ihn dingfest gemacht hatte. Genauso, wie alle anderen, die dazugehörten. Es war anders als damals mit dem Polizisten, der voller Mitleid mit ihr gewesen war. Der nicht glauben konnte, dass sie bei all dem, was sie durchgemacht hatte, denjenigen schützen würde, der für all ihr Leid verantwortlich war. Sie war stark gewesen, viel stärker, als der Polizist es hatte glauben können. Sie würde ihre Familie schützen. Egal, welche Opfer sie dafür bringen musste, dass hatte sie ihrem Papa versprochen, an dem Tag, als er sich zum letzten Mal von ihr verabschiedete hatte.
Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie musste ab jetzt einfach schneller und besser sein als Ben Wahlstrom.
Veranstaltung
D ie Halle war voller Menschen. An den Wänden hingen Plakate, fünf mal drei Meter groß. Sie zeigten Menschen in verschiedenen Lebenssituationen. Auf jedem Bild transparent, unaufdringlich, ein Wort. Meist nahm der Betrachter es nach längerem Hinsehen überhaupt erst wahr. Tochter, Sohn, Vater, Mutter, Leben, Freude, Glück, Hoffnung, Zukunft, Lachen, Spielen, Mut, Verantwortung, Opfer, Gemeinschaft und Liebe. Auf jedem Bild die rote Aids-Schleife. Die Bilder wurden indirekt beleuchtet, was ihnen eine enorme Lebendigkeit verlieh. Major Wahlstrom konnte die Stimmen der Menschen geradezu hören, wie sie zu ihm sprachen. Die Angst, der Kummer, der Schmerz, das Alleinsein, und die immer wieder gestellte Frage: „Warum ich?“ Aber genauso sah er die Stärke der Menschen, ihren Lebensmut, das Lachen, das Festhalten am Leben.
Er blieb vor dem Foto eines Mädchens stehen, dessen Augen nur im Hintergrund sichtbar waren, während vorne zehn, vielleicht auch sechzehn Kinder auf einem Bolzplatz Fußball spielten. Eines der Kinder war gestürzt, saß auf dem Boden und betrachtete sein aufgeschürftes Knie. Er fühlte, wie sich ein Klumpen in seinem Magen bildete. Das Foto vermischte sich mit den Bildern von Kinderleichen, die im Staub lagen. Er konnte das Blut sehen, ihre angstvoll aufgerissenen Augen. Er ballte die Fäuste, er musste seinen ganzen Willen aufwenden und sich von dem Plakat entfernen, um sich von seinen inneren Bildern lösen zu können.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass es in Anbetracht der Menschenmenge erstaunlich ruhig im Raum war. Er beobachtete die Leute, sah, wie sich einige verstohlen über die Augen wischten oder, wie er gerade, an einem Plakat lange ihren Gedanken nachhingen. Hanna Rosenbaum war nicht einfach eine Fotografin, sie war eine Künstlerin, die eine Geschichte erzählte, den Betrachtern einen Spiegel vorsetzte und sie tief berührte. Offen, ehrlich, hart. Er hatte sich noch nie wirklich Gedanken gemacht, was es für einen Menschen bedeutete, die Diagnose Aids zu bekommen. Was es aus seinem Leben machte, mit seiner Familie, seiner Arbeit. Er lebte in Afrika in einem Land, in dem fast jeder in der Verwandtschaft einen HIV-positiven Menschen hatte. Eltern starben, sie hinterließen Kinder mit nichts als einem Erinnerungsbuch. Das zu sehen, sein Herz dafür zu öffnen, hatte er sich verboten. Er würde sonst daran zerbrechen.
Menschen lebten und Menschen starben. Der Lauf eines Menschlebens bestand darin, dass es irgendwann begann und irgendwann endete. Er verschloss seine Augen vor dem Leid und konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Es gab so viele Probleme in diesen Ländern, ganz abgesehen von dieser oder anderen Krankheiten, gegen die er nichts tun konnte. Gegen Kriege, von westlichen Mächten geschürt aufgrund der Gier nach Rohstoffen, konnte er allerdings etwas tun. Grimmig presste er die Lippen zusammen.
Er sah sich nach etwas zu trinken um, entdeckte einen Servicestand und verlangte ein Bier. Einen Moment später nahm er ihren Geruch wahr, noch bevor sie ihn ansprach. Bei seinen Begegnungen mit ihr war ihm dieser Hauch von zu viel Parfüm mehrfach unangenehm in die Nase gestiegen.
„Hallo, Ben, was für eine Freude, dich hier zu sehen. Das macht die ganze Veranstaltung eine Spur interessanter.“
Marie. Er drehte sich langsam zu ihr um.
„Darf ich dir etwas zu trinken besorgen?“, fragte er sie höflich.
„Da sage ich nicht nein. Ich nehme einen Chablis oder Chardonnay, je nachdem, was heute zur Verfügung steht.“
Er reichte ihr ein Glas mit
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