Hannas Wahrheit (German Edition)
bekämst dann eine zweite Chance bei mir.“
Mit einem Knall schlug sie die Haustür zu. Seine Augen glitten durch den Garten. Es war so dunkel, dass er nichts als ein paar Konturen und tiefe Schatten ausmachen konnte. Er bückte sich und wischte seine rechte Hand im Gras ab. Ein letztes Mal ließ er seinen Blick durch die Gegend schweifen, bevor er sich ins Auto setzte.
Er schlug mit voller Wut auf das Steuerrad ein, bis seine Hände schmerzten. Schließlich lehnte er sich zurück, atmete ein paar Mal tief ein, bis er seine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte. Solche Ausbrüche konnte und durfte er sich in seinem Job nicht leisten. Verdammt, was war heute Nacht mit ihm passiert? Wo war seine Professionalität? Er startete den Motor, wendete das Fahrzeug und fuhr los.
Hanna hatte sich eng an den Baumstamm gedrückt, als sie sah, wie Ben Wahlstrom den Garten mit den Augen absuchte. Sie hielt die Luft an, schloss die Augen und betete leise, dass er sie nicht sah. Gleichzeitig loderte in ihr die Wut und ließ sie zittern. Er hatte sie benutzt, genauso wie er Marie benutzte. Hätte er von Marie nicht abgelassen, wer weiß, sie hätte ihn getötet. Endlich fuhr das Auto los. Sie verharrte eine ganze Weile, bis sie sich sicher war, dass es kein Trick von ihm war. Sie traute ihm kein Stück über den Weg.
All ihre Sinne waren auf das Äußerste angespannt. Sie war von der Veranstaltung kurz entschlossen zum Haus ihrer Schwester gefahren. Die Art, wie sich Marie an diesem Abend den Alkohol reingekippt hatte, machte ihr Sorgen. Das Licht vom Wohnzimmer fiel in den Garten. Sie zog sich noch ein Stück weiter in die Dunkelheit zurück. Vorsichtig umkreiste sie das Haus bis zu dem Kellereingang. Sie tastete unter einem Stein nach dem Schlüssel und fand ihn. Er war immer für sie da. Den Stein hatte sie einmal bei einem ihrer Urlaube an der dänischen Küste gefunden. Von oben sah er ganz normal aus, unten besaß er jedoch einen kleinen Hohlraum, in dem der Schlüssel Platz fand. Sie lauschte in die Dunkelheit, bevor sie leise die Tür öffnete und in das Haus schlüpfte.
Sie schlich die Treppe hoch und ging ins Wohnzimmer. Marie hatte eine CD aufgelegt und füllte sich eine dunkle, bernsteinfarbene Flüssigkeit in ein Glas. Sie drehte sich um und verschüttete einen Teil des Getränks.
„Mein Gott, Hanna, musst du immer durch den Keller schleichen? Kannst du nicht wie jeder andere vernünftige Mensch durch die Haustür kommen? Du hast mich zu Tode erschreckt.“
Hanna ging zu ihr und versuchte, das Glas aus der Hand ihrer Schwester zu nehmen. Marie wandte sich ab und trank es hastig leer. Sie ließ ihre Hände sinken. Traurig sah Hanna ihre Schwester an.
„Warum?“
„Warum, warum, warum.“ Bitterkeit troff aus der Stimme ihrer Schwester. „Weil es mir gefällt, weil ich es mag, weil es mich entspannt.“ Marie ließ sich in einen der bequemen Sessel fallen und zog die Beine unter ihren Körper.
Tränen quollen aus ihren Augen und liefen ihr Gesicht entlang. Hanna ließ sich im Schneidersitz zu den Füßen ihrer Schwester nieder. Eine Weile saßen sie schweigend voreinander.
„Bist du schon lange da?“ Maries Stimme klang schwer. Hanna nickte.
„Hast du alles mit angesehen?“
Hanna nickte erneut. Marie streckte den Arm aus und hielt ihr das leere Glas zum Auffüllen hin. Sie schüttelte den Kopf. Einen Moment starrte Marie sie an, dann hob sie die Hand und schleuderte das Glas auf den Boden, dicht neben Hanna. Glassplitter landeten auf ihrer schwarzen Hose. Nachdenklich betrachtete Hanna das willkürliche Muster, das dadurch entstanden war. Die Splitter waren spitz und scharf.
„Du denkst bestimmt, dass ich eine Schlampe bin.“
Hanna zuckte unter dem Schimpfwort aus dem Mund ihrer Schwester zusammen. Sie zögerte, zu antworten. Sie ging sehr vorsichtig mit Worten um. Einmal ausgesprochen, konnten sie nicht zurückgenommen werden, und manchmal waren sie gefährlicher als eine Waffe.
„Nein.“ Die Überzeugung, die in diesem Wort steckte, kam bei Marie an.
„Was denkst du dann über mich?“
„Dass du Liebe mit Sex verwechselst.“
„Das musst gerade du sagen. Du hast überhaupt keine Ahnung von Sex oder Liebe. Du schottest dich ab, lässt niemanden an dich heran, weil du Angst hast. Angst davor, verletzt zu werden. Angst davor, den Menschen zu verlieren, den du liebst. Und egal, was du machst, er entfernt sich trotzdem einfach von dir.“
Ihr war klar, dass Marie von sich redete und
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