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Hannas Wahrheit (German Edition)

Hannas Wahrheit (German Edition)

Titel: Hannas Wahrheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Rachfahl
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nicht von ihr. „Liebe braucht keinen Sex.“
    „Was ist das für ein Schwachsinn? Hast du den aus der Bibel? Liest du sie immer noch jeden Abend, bevor du ins Bett gehst? Denkst du, Papa hatte keinen Sex? Was meinst du, wie wir entstanden sind? Aus der unbefleckten Empfängnis?“
    Marie stand auf, holte sich ein neues Glas und schüttete sich einen weiteren Sherry ein. Sie ließ sich in den Sessel fallen. Mit einer Handbewegung versetzte sie die Flüssigkeit in ihrem Glas in eine Kreisbewegung. Ihr sonst so schönes Gesicht, das immer von einem Lächeln geprägt zu sein schien, war verquollen. Ein bitterer, gehässiger Zug lag um ihre Lippen.
    Hanna duckte sich innerlich vor dem nächsten Angriff, der unweigerlich kommen würde. Es war nichts Neues für sie. Es kam selten vor, dass ihre Schwester aus der Rolle fiel, aber wenn sie es tat, war sie unberechenbar.
    Marie hob den Blick von der Flüssigkeit in ihrem Glas und fixierte sie. „Er war der größte Sünder. Er hat seinen Glauben verraten, weil er sich nicht an das Zölibat halten konnte. So viel zu seinem christlichen Glauben. Und ich fand, was bitterer ist als der Tod: das Weib, welches Netzen gleicht, und dessen Fanggarne, dessen Hände Fesseln sind. Wer Gott wohlgefällig ist, wird ihr entrinnen, aber der Sünder wird durch sie gefangen werden. Heißt es nicht so in Prediger sieben, Vers sechsundzwanzig?“
    Hanna legte ihren Kopf schief und betrachtete ihre Schwester aufmerksam. Es erstaunte sie sehr, dass Marie einen Vers aus der Bibel zitierte. Sie hatte gedacht, ihre Schwester hätte nach dem Tod ihres Vaters nie wieder einen Blick in das Buch geworfen.
    Marie nahm einen Schluck aus ihrem Glas. „Und dafür wurde er exkommuniziert“, fügte sie düster hinzu.
    „Wie kommst du darauf?“, hakte sie verblüfft nach.
    „Dass Papa exkommuniziert worden ist?“
    „Ja.“
    „Weil das so ist, wenn ein Priester mit einer Frau schläft und Kinder mit ihr hat.“
    Hanna schüttelte den Kopf. „Nein, Papa hat sich der Laisierung unterzogen. Er ist von seinem Priesteramt zurückgetreten, bevor er Mama geheiratet hat.“
    „Und das weißt du woher?“
    „Von Papa.“
    „Und ihr habt darüber geredet?“ Die Ironie troff aus Maries Stimme. Sie ließ die Flüssigkeit in ihrem Glas heftiger kreisen. Schließlich sah sie sie wieder an. „Wir waren neun, als er starb.“
    „Ich weiß.“
    „Wann habt ihr darüber geredet?“
    „Bei unserer Kommunion. Ich wollte wissen, warum er nicht zur Eucharistie ging.“
    „Er hat dich immer mehr geliebt als mich“, flüsterte Marie heiser und trank den nächsten Schluck.
    Hanna wollte widersprechen, doch sie schwieg. Marie hatte recht. Sie erinnerte sich an seine bedingungslose Liebe, seine Wärme, seine Geborgenheit und sein Verständnis für ihre Schwierigkeit im Umgang mit anderen Menschen. Er hatte ihr die erste Kamera gegeben und ihr geholfen, sich über das Objektiv behutsam den Menschen zu nähern. Sie hatte die Diskussionen ihrer Eltern gehört, ob sie autistisch veranlagt wäre. Ihre Mutter hatte sie zu Psychologen geschleift, ihr Vater hatte seine Frau gewähren lassen, bis sie akzeptieren konnte, dass sie so war, wie sie war. Ruhig, in sich gekehrt, sich selbst genügend. Mama hatte Marie gehabt, die in ihrer Persönlichkeit das genaue Gegenteil von ihr war. Für Hanna gab es Papa, bis zu seinem Unfall. Aber seine Liebe war so groß gewesen, dass sie für ihr ganzes Leben reichte. Sie verstand nicht, warum Marie weder die Liebe ihres Vaters, ihrer Mutter, noch ihre Liebe reichte. Seit Marie ihre Sexualität entdeckt hatte, hungerte sie nach einer Liebe, die sie nicht fand. Egal, was sie machte, der Hunger schien nie gestillt zu sein. Im Gegenteil. Je mehr Sex sie hatte, desto hungriger schien sie zu werden.
    Für einen Moment blitzte die Erinnerung an die Nacht in Afrika in Hannas Kopf auf und sandte warme Schauer über ihren Körper. Sie biss sich auf die Lippen. Das war kein Sex gewesen, der hungrig machte. Das war Sex gewesen, der satt machte. Verwirrt hielt sie in ihren Gedanken inne.
    „Worüber hast du nachgedacht?“
    Hanna schüttelte den Kopf. Sie war zu durcheinander, um eine Antwort zu geben. Langsam beugte sich Marie vor, fasste mit ihrer Hand unter ihr Kinn und hob ihren Kopf an. Helle blaue Augen verschmolzen mit dunklen blauen Augen.
    „Der Sex mit ihm hat dir gefallen“, stellte Marie fest. Dann ließ sie sie los, als hätte sie sich die Finger verbrannt. Stille Tränen begannen aus

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