Hannas Wahrheit (German Edition)
Maries Augen zu fließen, vermehrten sich, wurden zu einem Strom. Ihr Körper begann zu beben. Hanna stand auf, schüttelte die Glassplitter ab, setzte sich auf die Lehne und umarmte Marie. Schluchzend warf ihre Schwester die Arme um sie und drückte ihren Kopf an ihre Brust. Sie lehnte ihr Kinn auf den Kopf ihrer Schwester.
„Schscht, Schscht.“ Sanft streichelte Hanna ihr über die Haare. Es dauerte, bis sich Marie beruhigte. Als ihr Körper aufhörte zu beben, setzte sie vorsichtig zu ihrer Frage an, die sie beschäftigte, seitdem sie von Lukas’ Seitensprung erfahren hatte.
„Wieso tust du dir das mit Lukas an?“
Marie lachte kurz freudlos auf. „Ich weiß es nicht. Vielleicht möchte ich einfach nur geliebt werden.“
„Ich liebe dich.“
„Ich weiß, aber das reicht mir nicht. Ich brauche mehr. Einen Mann, der mich so nimmt, wie ich bin. Einer, der den Boden unter meinen Füssen küsst. So wie Papa und Armin bei Mama.“
Hanna streichelte den Rücken von Marie. Sie verstand, was ihre Schwester meinte.
„Weißt du, ich glaube, Lukas hat mich nie wirklich geliebt“, flüsterte Marie leise.
„Es tut mir leid.“
Marie lachte hart auf. „Was, dass ich einen Fehler gemacht habe?“
„Nein, dass ich dir die Heirat nicht hartnäckiger ausgeredet habe.“
Marie richtete sich auf und sah ihr in die Augen. „Hast du mit Lukas geschlafen?“
Hanna schüttelte den Kopf.
„Mit wie vielen Männern hast du geschlafen, seit dem …“ Hanna zögerte. Sie beide hatten nie über das gesprochen, was bei ihrer Entführung passiert war.
Sie löste sich aus Maries Umarmung und setzte sich auf den Boden. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie wollte nicht über das reden, was damals passiert war. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass dieses Gespräch heute notwendig war. Nicht für sie, sondern für Marie.
„Zwei.“
„Wahlstrom und?“
Sie schüttelte den Kopf.
„War Wahlstrom der Erste?“
Sie schüttelte erneut den Kopf.
„Hattest du Angst?“
„Ja.“
„Was war das damals für ein Gefühl, als man dich vergewaltigte?“
„Ich fühlte mich schuldig.“
„Weil dich Gott so bestraft hat?“
„Nein, weil ich dieses Verlangen in den Männern weckte.“
„Wie konntest du das ertragen?“
„Mir wurde irgendwann klar, dass ich einen Körper habe und eine Seele. Den Körper konnten sie nehmen, meine Seele nicht.“ Hanna erinnerte sich an die Ruhe, die Angst und Schuldgefühle weggewischt hatte und sogar Bedauern für die Männer zuließ. Damals hatte sie gespürt, dass sie nicht alleine war. Niemals allein sein würde.
„Bleibst du heute Nacht bei mir?“
Sie sah Marie mit einem schiefen Lächeln an. Sie zögerte mit ihrer Antwort.
„Bitte, Hanna, lass mich nicht allein.“
Hanna wachte auf, als Lukas leise die Tür zum Schlafzimmer öffnete. Sie hatte ihre Hose ausgezogen und war zu Marie ins Bett geschlüpft. Noch immer lag sie eng an den Rücken ihrer fünf Minuten jüngeren Schwester geschmiegt. Ihre Hand lag auf der Seide, die die Haut ihrer Schwester bedeckte. Tief und gleichmäßig atmete Marie. In der Dunkelheit, aneinandergeschmiegt wie in den Tagen ihrer Kindheit, hatten sie sich Dinge erzählt, über die sie sonst nie sprachen. Eigentlich hatte sie zugehört, während Marie erzählte. Es gab etwas, was ihrer Schwester auf der Seele brannte, das sie ihr zu sagen aber nicht schaffte. Sie machte nicht den Fehler, nachzufragen, das hätte wohl nur dazu geführt, dass sich Marie erneut vor ihr verschloss. Wenn sie ihr helfen sollte, sich von Lukas zu lösen, dann konnte das nur gelingen, wenn ihre Schwester ihr wieder vertraute wie früher. Irgendwann war Marie eingeschlafen. Statt zu gehen, wie sie es ursprünglich vorgehabt hatte, genoss sie die Nähe, atmete tief den Geruch des vertrauten Körpers ein. Wann war ihre gemeinsame Welt so aus den Fugen geraten? Damals, als Papa starb? Oder als Silvia Armin Ziegler heiratete? Nach ihrer Entführung oder nach der Hochzeit von Marie?
„Warte, bevor du dich ausziehst“, flüsterte Hanna hastig, als sie sah, wie Lukas sich bereits das Hemd aufknöpfte. Erschrocken fuhr ihr Schwager zusammen und stieß einen kurzen Schrei aus.
„Scht, verdammt.“
„Verflucht noch mal, was machst du hier“, herrschte er sie an.
„Scht“, flüsterte sie leise und legte ihren Zeigefinger auf den Mund. Marie murmelte etwas im Schlaf und dreht sich um. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Sie fühlte den intensiven Blick von
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