Hannas Wahrheit (German Edition)
Ellenbogen auf der Mauer hatte. Mit aller Kraft stemmte sie ihren Körper hoch.
Sie fragte sich, ob einer der Nachbarn sie beobachtet hatte und womöglich die Polizei rufen würde. Flach auf der Mauer liegend, musterte sie die Straße. Alles war ruhig. Es war zu früh an einem Sonntag, als dass sich in diesem Wohnviertel jemand auf der Straße befand. Sie ließ ihre Augen über die Autos wandern, die in der Straße parkten. Es waren nicht viele. Keines schien ihr verdächtig. Federnd landete sie auf ihren Füßen, als sie sich hinuntergleiten ließ. Ihr Auto stand in der Parallelstraße.
Fünf Minuten später lenkte sie den VW Polo aus dem Wohngebiet. Niemand folgt ihr. Sie schlug nicht den Weg zurück zur Innenstadt ein.
Hanna fuhr eine halbe Stunde, bis sie den See erreichte. Sie parkte das Auto auf dem öffentlichen Parkplatz und stieg aus. Seit sie aus der psychiatrischen Betreuung entlassen worden war, war sie nur ein einziges Mal hier gewesen. Dennoch kannte sie den Weg genau. Die Hütte war verwahrlost. Aber die Hütte war auch nicht ihr Ziel, sondern der Steg, der in den See führte. Dort hatten die Entführer sie damals in das Wasser geworfen, weil sie dachten, sie wäre tot. Sie war in dem Sack untergegangen, doch es war die Kälte des Wassers gewesen, die wie eine Schockwelle durch ihren Körper gerast war und ihr Herz zum Schlagen gebracht hatte. Sie war zu Bewusstsein gekommen, nur um panisch zu spüren, dass sie gleich ertrinken würde. Nach fünf Tagen mit Handschellen ans Bett gefesselt hatte sie nicht sofort realisieren können, dass ihre Hände frei waren. Der Sack war nicht zugeschnürt, und doch fehlte ihr die Luft, als sie endlich versuchte, sich zu befreien. Zu spät, war ihr letzter Gedanke gewesen, dann hatten sie Arme gepackt und an die Wasseroberfläche gezerrt. Noch mehr Hände hatten nach ihr gegriffen und sie auf den Steg gehievt.
Kurz darauf packte jemand ihren Kopf zwischen seine Hände. „Johanna, du musst leben, hast du mich verstanden?“ Johanna, so nannte sie niemand außer ihrem Vater. „Meine Johanna von Orléans“, so hatte er sie immer zärtlich genannt, bevor er ihr einen Gutenachtkuss auf die Stirn drückte. Es war ihr richtiger Name, doch niemand nannte sie so. Lebe, ja, lebe Johanna. Wütend wischte sie sich die Tränen von den Augen, die ihr bei der Erinnerung an die Vergangenheit über das Gesicht liefen.
Karl Hartmann, ihr Lebensretter, bekam eine Auszeichnung für seine Heldentat. Für sie war er der Schutzengel, den ihr Vater ihr geschickt hatte. Aus welchem Grund sonst wäre er in den See gesprungen? Aus welchem Grund sonst hätte er sie bei ihrem richtigen Namen aus dem Tod in das Leben rufen sollen? Alle seine Kollegen erzählten, dass sie ihn damals für verrückt gehalten hätten. Und es ein Wunder sei, dass sie noch lebte. Ja, es war ein Wunder, das wusste sie am besten. Karl Hartmann war es gewesen, der ihr später den Selbstverteidigungstrainer vermittelt hatte. Er wollte, dass sie sich niemals mehr in ihrem Leben hilflos fühlte.
Karl Hartmann war vor langer Zeit aus ihrem Leben verschwunden. Eigentlich hatte sie ihm niemals wirklich danken können. Dafür schloss sie ihn jeden Abend in ihre Gebete ein. Sie fragte sich, was er wohl heute denken würde, wenn er sehen würde, wie sie hier an diesem Steg stand und sich doch wieder hilflos fühlte.
Hanna setzte sich auf den Steg, zog die Beine an, umschlang sie mit ihren Armen und stützte das Kinn auf die Knie. Regentropfen fielen vereinzelt auf die Holzplanken und ins Wasser. Sie beobachtete, wie die vollkommenen, runden Gebilde auf das Holz trafen und sich in einem kreisrunden Fleck auflösten. Warum waren die Abbildungen eines Wassertropfens immer kreisrund? Vermutlich gab es eine vernünftige Erklärung dafür und sie wünschte es gäbe diese Erklärung auch für das, was ihr passiert war. Dann wäre sie in der Lage es zu kontrollieren.
Hanna war schon oft in Afrika gewesen. Von der Stiftung ihres Schwiegervaters hatte sie keine Ahnung gehabt, genauso wenig davon, dass es Projekte gab, die diese Stiftung in Afrika unterstützte. Wieso war sie in diese Situation geraten? Warum hatten sie früher als beabsichtigt ihr Projekt beendet? Mussten sie ausgerechnet einen Fahrer erwischen, der eine Schwester in diesem Dorf besaß? Warum hatten sie nicht nein gesagt und waren direkt zum Flughafen gefahren? Sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, diese Fragen zu stellen.
Auch damals hatte sie sich immer
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