Hannes - Falk, R: Hannes
der Vergangenheit etwas sehr Schlimmes geschehen, weißt du. Etwas, das sie einfach nicht mehr zurückkehren lässt in ein normales Leben. Und trotz dieser Erfahrungen haben mir die Menschen dort so eine Zuversicht gegeben wie sonst selten jemand zuvor. Egal.
Jedenfalls ist mir dann die Geschichte wieder eingefallen, wie wir beide zusammen ausgerissen sind von zu Hause. Weißt du das noch, Hannes? Wir waren damals so zehn oder elf. Wir hatten einen Film gesehen, in dem ein Junge ausreißt von zu Hause und dann ganz tolle Abenteuer erlebt. Das war klasse, und wir wollten das natürlich unbedingt auch erleben. Wir haben unsere Sachen gepackt in diese winzigen Rucksäcke, und ich hatte ’nen Schnorchel und Taucherflossen dabei, weil der Junge im Film eben auch beim Tauchen war. Es war Ende Oktober und ich hatte noch nicht mal einen Schal dabei. Dafür aber Schnorchel und Taucherflossen. Na, jedenfalls waren wir immerhin zwei Tage und eine Nacht unterwegs. Wir haben von unserem gemeinsamen Geld am ersten Tag jeder ’ne Pizza gekauft und dann waren wir pleite. Irgendwie hatten wir uns das alles ein bisschen anders vorgestellt, nicht wahr? Es war doch alles so einfach in dem Film. Wir aber habenelendig gehungert und gefroren und sind schließlich am Münchner Hauptbahnhof von der Bahnpolizei aufgegriffen worden. Meine Eltern haben uns dort abgeholt und dich nach Hause gefahren. Anschließend musste ich mit ihnen ans Grab meiner Großeltern, weil eben Allerheiligen war. Ich habe dort sonst nie mit hinmüssen, weil sie halt geglaubt haben, das ist nichts Schönes für ein Kind. Diesmal aber musste ich mit. Sie haben mir einfach nicht mehr getraut. Obwohl ich an diesem Tag ganz bestimmt nicht mehr abgehauen wäre.
Ein paar Tage später haben wir beide beschlossen, das nächste Mal im Sommer abzuhauen, weil es da warm ist und wir dann tauchen können. Und außerdem würden überall Früchte wachsen. Von denen könnten wir ganz wunderbar leben. Leider haben wir den Gedanken irgendwann vergessen. Wer weiß, Hannes, vielleicht wären wir ja längst in Amerika und unser Traum wär wahr geworden und wir würden als Cowboys durch die Wildnis reiten.
Was ich dir noch erzählen muss: Am Abend vor dem Besuch am Friedhof wurde im Vogelnest Kürbissuppe gegessen. Die Insassen haben tagelang Grimassen in Kürbisse geschnitzt und die Walrika hat die dann vorm Vogelnest aufgestellt und Kerzen reingemacht. Sie hatte Teufelshörner auf dem Kopf und einen roten Umhang über der Kutte. Dazu trug sie einen selbst gemalten Oberlippenbart, dessen Form etwas unglücklich gewählt war und mich ganz stark an Hitler erinnerte. Die Kinder der Nachbarschaft kamen den ganzen Abend lang und haben »Süßes, sonst Saures« gefordert. Und die Walrika hat den ganzen Abend lang Süßes verteilt. Besonders gut wirkte der Bart, wenn sie ihren rechten Arm ausstreckte, um den Kindern zum Abschied zu winken.
Mittwoch, 08.11.
War heute vor der Schicht bei dir und bin auf deinen Vater gestoßen. Er hat mir erzählt, dass er die Scheidung eingereicht hat. Mich hätte das fast umgehauen. Er roch etwas nach Alkohol und hat gesagt, er kommt mit der Situation nicht mehr klar. Weder mit deiner noch mit der deiner Mutter, ganz zu schweigen von dem Kind. Er war nun grad bei dir, um sich zu verabschieden, und wird nun erst mal nach Gelsenkirchen zu seinem Bruder fahren. Vielleicht wird er da auch bleiben, das weiß er noch nicht, er könne aber als freiberuflicher Fotograf von überall aus arbeiten. Und es wär ohnehin scheißegal, wo er seine Fotos schießt. Er wird auch den Hund mitnehmen, hat er gesagt. Du könntest ihn jetzt eh nicht brauchen und deine Mutter hätte ja das Balg. Wir haben uns dann verabschiedet und mir war schon etwas komisch dabei.
Bin hinterher noch zu dir rauf, und da war deine Mutter, diesmal ohne Nele und Kind, und hat auf deiner Bettkante gesessen. Wir waren eine ganze Weile gemeinsam bei dir und haben uns auch unterhalten, Hannes. Sie hat aber keinen Ton über deinen Vater gesagt. Mich würde nur interessieren, ob sie es nur mir nicht sagen wollte, oder ob sie es selber nicht kapiert. Nicht kapieren will, was da abgeht. Ich hab mich aber nicht fragen trauen und bin dann eben wieder gegangen. Sie machte mir nicht den Eindruck, dass sie demnächst das Feld räumen würde, und deshalb bin ich halt zuerst weg.
Hab der Walrika auf dem Balkon die Geschichte von der Trennung deiner Eltern erzählt. Hab gesagt, dass mich das ziemlich
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