Hannes - Falk, R: Hannes
sie fast keine Luft mehr gekriegt. Sie hat sich mit dem Ärmel der Kutte die Tränen abgewischt und mir ein Heftchen in die Hand gedrückt mit dem Text, den ich lernen sollte. Ich glaub, das kann ich mir sparen, weil ich vermutlich die Menschen schon allein mit meinem Anblick von den Bänken reißen werde. Egal.
Jedenfalls werden wir zwei am Silvesterabend die Insassen beglücken, und das ist doch auch was Schönes.
War diese Woche nach der Schicht zweimal bei dir, da bist du aber in deinem Bett gelegen und hast an der Wand gekreist. Da es aber frühester Morgen ist, wenn ich komme, ist das auch ganz normal. Vermutlich sitzt du nachmittags am Fenster. Habe leider niemanden angetroffen, den ich fragen könnte. Die Schwester hat gesagt, sie weiß es nicht, weil sie seit Tagen die Nachtschicht hat, und der Schnauzbart war noch nicht da. Werde am Wochenende nachmittags kommen und hoffe, dich dann am Fenster anzutreffen, mein Freund. Hab mich morgen Abend mit dem Brenninger verabredet, muss dringend mal raus.
Montag, 20.11.
War am Samstag und Sonntag jeweils am Nachmittag bei dir und du hast in der Kastanie gekreist. Habe mich gefreut, dich im Rollstuhl anzutreffen, auch wenn dein Kopf schief ist und baumelt. Bin auf dem Fensterbrett gesessen und hab dir von den letzten Tagen erzählt. Hab dir die Eishockeyergebnisse vorgelesen und bin mit dir meinen Text für Silvester durchgegangen. Manchmal hast du deinen Kopf zu mir hergedreht (nicht lange zwar, aber immerhin) und meine Hand gedrückt. Einmal war deine Mutter kurz da mit ganz verweinten Augen. Das war ihr wohl peinlich, jedenfalls hat sie gesagt, sie käme später wieder. Sonst war niemand bei dir, Hannes. Die Belagerungszustände von einst sind wohl Geschichte.
War am Samstagabend mit dem Brenninger im Sullivan’s, dort hat ’ne Liveband Irish Folk gespielt, und das war großartig. Später ist auch der Rick noch dazugestoßen, der war aber leider ziemlich voll, und das hat seine naturgegebene Aggressivität leider deutlich erhöht. Jedenfalls hat der Brenninger irgendwann gesagt, dass er nicht mehr zu dir reinkommt, weil du halt daliegst wie ein verdammter Mongo, und ich hab gesagt, dass das nicht stimmt. Dass du jetzt schon im Rollstuhl sitzt, Hände drückst und den Kopf bewegst. Das mit dem Gewackel hab ich weggelassen, weil ich das nicht so wichtig gefunden hab. Der Brenninger hat gesagt, das wär scheißegal, ob du im Bett oder im Rollstuhl vor dich hin dümpelst, jedenfalls würdest du eben dümpeln, und das kann er nicht mehr ertragen. Und ich hab gesagt, dass es jetzt bergauf geht, und weiter bin ich eigentlich nicht mehr gekommen. Weil dann hat sich der Rick eingemischt und gesagt: »Wie lang willst du dir eigentlich noch was vormachen, du Arschloch? Siehst du denn die Wahrheit nicht? Oder willst du sie nicht sehen? Der Hannes ist tot. Da kann der Typ im Rollstuhl noch hundertmal Hände drücken und an den Wänden kreisen. Das ist doch nicht mehr unser Hannes, verdammt! Das ist ein gottverdammter Mongo, und du bist ein gottverdammtes Arschloch!«
Leider ist er beim letzten Satz mitten in die Spielpause der Band reingekommen, und nun sind halt alle Blicke im Sullivan’s an mir, dem gottverdammten Arschloch, geklebt. Das war nicht schön. Da ich die Aufmerksamkeit der anderen Gäste nicht weiter strapazieren wollte, hab ich lieber gar nix mehr gesagt.
Der Rick hat später noch erzählt, dass der Kalle jetzt wiedermal bei der Nele war, um die kleine Joco zu besuchen. Und dass es ihm langsam wieder besser geht. Er hat gesagt, der Kalle kann dich auch nicht mehr besuchen, einfach weil er sich so schämt. Weil er ein elendiger Verräter ist, soll er gesagt haben. Na ja. Es sieht wohl so aus, Hannes, als würden wir zwei nun allein bleiben und ich müsste mir keine Gedanken mehr machen, dass uns jemand stört.
Freitag, 24.11.
Servus Hannes,
heute in einem Monat ist Weihnachten, kannst du das glauben? Die Zeit vergeht und das Jahr ist gleich rum und auch meine Zeit hier im Vogelnest neigt sich dem Ende zu. Am Wochenende haben wir nun unseren Weihnachtsbasar. Der Typ von der Zeitung war wieder da und hat im Vorfeld einen Bericht gebracht, damit eben möglichst viele Besucher kommen. Der Florian ist seit ein paar Tagen zurück, nur vorübergehend zwar, weil er halt auch den Garten ein wenig dekorieren sollte. Und das hat er natürlich mit Bravour gemacht. Er hat Lichterketten in die alten Bäume gehängt und überall Töpfe mit roten Beeren und
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