Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Licht auf dem Schnee verstreut, von Gehirnmasse zusammengeklebt.
Chiyoh legte ein Aloeblatt auf die Wunde, und Lady Murasaki verband seine Hand. Als sie fertig war, ging Hannibal zum Teetisch, nahm die Pfingstrose und kürzte den Stiel. Dann steckte er die Blume in die Vase und vervollständigte ein geschmackvolles Arrangement.
Er wandte sich zu Lady Murasaki und Chiyoh um. Über sein Gesicht huschte eine Bewegung wie das Erzittern von Wasser, und er versuchte »Danke« zu sagen. Lady Murasaki belohnte die Anstrengung mit dem verhaltensten und besten Lächeln, das er sich vorstellen konnte, aber sie ließ es ihn nicht lange versuchen.
»Möchtest du mit mir kommen, Hannibal? Und würdest du mir helfen, die Blumen zu tragen?«
Gemeinsam stiegen sie die Treppe zum Dachboden hinauf.
Die Dachbodentür hatte einmal an einer anderen Stelle des Hauses Verwendung gefunden; in das Türblatt war ein Gesicht geschnitzt, eine griechische Komödienmaske. Lady Murasaki ging mit einem Kerzenhalter zum hinteren Ende des riesigen Dachbodens voraus, vorbei an einer bis zu dreihundert Jahre alten Sammlung von Truhen, Weihnachtsschmuck, Gartendekor, Korbmöbeln, Kabuki- und No-Kostümen und an Stangen hängenden lebensgroßen Marionetten für festliche Aufführungen.
Durch die Ritzen eines verdunkelten Fensters drang schwaches Licht. Der Schein der Kerze fiel auf einen kleinen Altar, einen Ahnenschrein gegenüber dem Fenster. Darauf standen Bilder von Lady Murasakis und Hannibals Vorfahren. Ein Zug von Origami-Kranichen aus kunstvoll gefaltetem Papier umschwebte die sepiagetönten alten Fotografien. Unter den Bildern befand sich auch ein Hochzeitsfoto von Hannibals Eltern. Hannibal betrachtete die beiden im Kerzenlicht genau.
Seine Mutter sah sehr glücklich aus. Die einzige Flamme war die von Hannibals Kerze – die Kleider seiner Mutter brannten nicht. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, als wäre jemand ganz nah bei ihm, und er spähte angestrengt in das Dunkel um ihn herum.
Als Lady Murasaki die Verdunklung des Dachfensters hochzog, fiel das Morgenlicht auf Hannibal und die rätselhafte Präsenz an seiner Seite, stieg dann über gepanzerte Füße zu einem Kriegsfächer empor, der von gepanzerten Handschuhen gehalten wurde, und weiter zu einem Brustpanzer, bis es eine eiserne Maske und den gehörnten Helm eines Samurai erreichte. Die Rüstung stand auf einem Sockel. Die Waffen des Samurai, Langschwert, Kurzschwert, Tanto-Dolch und Streitaxt, lagen auf einem Ständer davor.
»Stellen wir die Blumen doch hierhin«, schlug Lady Murasaki vor und räumte auf dem Altar vor den Fotos seiner Eltern eine Stelle frei. »Das ist der Ort, an dem ich für dich bete, und ich würde dir dringend empfehlen, dass du auch für dich selbst betest und die Geister deiner Angehörigen bittest, dir Weisheit und Kraft zu schenken.«
Aus Höflichkeit neigte er vor dem Altar kurz den Kopf, spürte jedoch vor allem den unwiderstehlichen Sog der Rüstung. Er ging zu dem Gestell, um die Waffen zu berühren. Lady Murasaki gebot ihm mit erhobener Hand Einhalt.
»Diese Rüstung meines Urururgroßvaters stand vor dem Krieg in der Botschaft in Paris, als mein Vater dort japanischer Botschafter war. Wir haben sie vor den Deutschen versteckt. Ich berühre sie nur einmal im Jahr: Am Geburtstag meines Ahnen wird mir die Ehre zuteil, seine Rüstung und seine Waffen zu säubern und mit Kamelienöl und dem Ö1 von Nelken einzureiben, ein wundervoller Duft.«
Sie entfernte den Stöpsel einer Ampulle und ließ Hannibal daran riechen.
Vor der Rüstung lag eine Bildrolle auf dem Sockel. Sie war gerade so weit entrollt, dass das erste Bild zu sehen war. Hs zeigte den Samurai in voller Rüstung bei einer Morgenversammlung seines Gefolges. Während Lady Murasaki die Gegenstände auf dem Altar neu arrangierte, entrollte Hannibal die Bildrolle ein Stück weiter. Auf der nächsten Abbildung war die Gestalt in der Rüstung bei einer Zurschaustellung der abgeschlagenen Köpfe feindlicher Samurai zu sehen. Jeder Kopf war mit einem Schild versehen, auf dem der Name des Toten stand. Diese Etiketten waren an den Haaren oder, wenn der Betreffende kahlköpfig war, an den Ohren befestigt.
Lady Murasaki nahm Hannibal die Bildrolle behutsam aus der Hand und rollte sie wieder so weit zusammen, dass nur noch ihr Vorfahre in seiner Rüstung zu sehen war.
»Auf diesen Abbildungen sind die Geschehnisse nach der Schlacht um Burg Osaka festgehalten«, erklärte sie ihm. »Es gibt auch
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