Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
»Wenn du jetzt in diesem Trancezustand ganz ruhig bleibst, kannst du mir dann einige der Dinge erzählen, die du in deinen Träumen siehst?«
Hannibal, der das Ticken der Uhr und des Metronoms zählte, antwortete Dr. Rufin mit einem tiefen Vibrieren seiner Oberlippe. Um der Symmetrie zu der Zahl VII willen hatte die Uhr auf dem Kaminsims statt einer IIII eine römische IV auf dem Zifferblatt. Hannibal fragte sich, ob das bedeutete, dass sie auch römisch schlug – dass sie also zwei verschiedene Glockentöne hatte, einen, der »fünf« bedeutete, und einen anderen, der für ›eins‹ stand.
Der Doktor reichte ihm einen Schreibblock. »Könntest du vielleicht einige der Dinge aufschreiben, die du siehst? Du rufst im Schlaf sehr oft den Namen deiner Schwester. Siehst du deine Schwester im Traum auch?«
Hannibal nickte.
In Burg Lecter hatten einige Uhren römisch geschlagen, andere nicht, aber alle, die römisch schlugen, hatten eine IV statt einer IIII auf dem Zifferblatt gehabt. Als Herr Jakov einmal eine Uhr geöffnet hatte, um Hannibal die Funktion der Hemmung zu erklären, hatte er ihm von Joseph Knibb und seinen frühen Uhren mit römischem Schlagwerk erzählt. Es wäre schön gewesen, jetzt in Gedanken den Uhrensaal aufsuchen zu können, um sich die Hemmung anzusehen. Er überlegte, ob er sich auf der Stelle dorthin begeben sollte, aber damit hätte er Dr. Rufins Geduld wohl überstrapaziert.
»Hannibal. Hannibal. Wenn du an das letzte Mal denkst, als du deine Schwester gesehen hast, könntest du vielleicht aufschreiben, was du dann siehst? Könntest du aufschreiben, was du dir zu sehen einbildest?«
Hannibal schrieb, ohne auf den Block zu sehen, und zählte dabei weiter die Schläge des Metronoms und der Uhr.
Nachdem Dr. Rufin einen Blick auf den Schreibblock geworfen hatte, machte er voller Zuversicht weiter. »Du siehst ihre Milchzähne? Nur ihre Milchzähne? Wo siehst du sie, Hannibal?«
Hannibal streckte die Hand nach dem Metronom aus und hielt das Pendel an. Er schätzte seine Länge und die Stellung des Gewichts auf der Skala des Metronoms. Dann schrieb er auf den Block: »In einer Abortgrube, Herr Doktor. Darf ich die Uhr hinten öffnen?«
Hannibal wartete draußen bei den anderen Patienten, als er fertig war und Graf Lecter und Lady Murasaki ins Sprechzimmer gebeten wurden.
»Das warst vorhin du, nicht ich«, sagte der Patient, der sich wie ein Eichhörnchen bewegte. »Gib es ruhig zu. Hast du vielleicht einen Kaugummi für mich?«
»Ich habe versucht, ihn weiter nach seiner Schwester zu fragen«, sagte Dr. Rufin. »Aber er hat einfach die Rollläden heruntergelassen.«
Der Graf stand im Sprechzimmer hinter Lady Murasaki, die auf dem Lehnsessel Platz genommen hatte, während Dr. Rufin auf und ab ging.
»Um ehrlich zu sein, muss ich zugeben, dass er mir ein vollkommenes Rätsel ist. Ich habe ihn gründlich untersucht, und an seiner körperlichen Verfassung ist nicht das Geringste auszusetzen. Ich habe zwar Narben auf seiner Kopfhaut festgestellt, aber keinerlei Spuren einer Schädelfraktur. Ich könnte mir allerdings denken, dass die beiden Gehirnhälften vollkommen unabhängig voneinander arbeiten, wie dies bei manchen Schädeltraumen der Fall ist, bei denen der Austausch zwischen den Gehirnhälften beeinträchtigt ist. Hannibal scheint mehreren Gedankengängen gleichzeitig nachgehen zu können, die sich gegenseitig nicht beeinträchtigen, und einer dieser Gedankengänge dient immer seiner eigenen Unterhaltung.
Die Narbe am Hals rührt von einer Kette her, die an seiner Haut festgefroren war«, fuhr Dr. Rufin nach einer kurzen Pause fort. »Ich habe so etwas schon gelegentlich gesehen, vor allem unmittelbar nach Kriegsende, als die Lager geöffnet wurden. Was mit seiner Schwester passiert ist, vermag ich nicht zu sagen. Ich glaube allerdings, dass Hannibal es weiß, ob er sich dessen nun bewusst ist oder nicht. Und hier sehe ich auch die Gefahr: Der Verstand erinnert sich nur an das, woran zu erinnern er sich leisten kann, und er bestimmt ganz allein das Tempo, in dem er das tut. Hannibal wird sich wieder erinnern, wenn er es ertragen kann. Ich würde ihn jedenfalls auf keinen Fall zu irgendetwas drängen, und es hätte auch keinen Sinn, ihn zu hypnotisieren. Wenn er sich nämlich zu früh erinnert, könnte er innerlich für immer einfrieren, um sich dem Schmerz zu entziehen. Werden Sie ihn auf Dauer bei sich aufnehmen?«
»Ja«, antworteten Graf Lecter und Lady Murasaki rasch.
Dr.
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