Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Rufin nickte. »Binden Sie ihn in Ihre Familie ein, so gut Sie können. Wenn er einmal anfängt, aus sich herauszugehen, wird er zugänglicher werden, als Sie sich momentan vorstellen können.«
18
Der französische Hochsommer – ein Pollennebel auf dem Wasser der Essonne und Enten im Schilf. Hannibal sprach immer noch kein Wort, aber er hatte einen traumlosen Schlaf und den Appetit eines gesunden Dreizehnjährigen.
Sein Onkel Robert Lecter war warmherziger und weniger reserviert, als es Hannibals Vater gewesen war. Er hatte sich die Sorglosigkeit des Künstlers erhalten, die sich mit der Sorglosigkeit des Alters verbunden hatte.
Auf dem Dach des Château s gab es einen Laubengang, in dem sie auf und ab gehen konnten. In den Tälern des Daches hatten sich Pollenverwehungen gebildet, die einen goldenen Glanz über das Moos breiteten, und im Wind schwebten Fallschirmspinnen an ihnen vorbei.
Der Graf war hochgewachsen und hatte Ähnlichkeit mit einem Vogel. In dem hellen Licht auf dem Dach war seine Haut grau. Seine Hände auf dem Geländer waren schmal und sahen aus wie die Hände von Hannibals Vater.
»Unsere Familie«, begann er, »ist ein ziemlich eigenartiges Völkchen, Hannibal. Wir merken es alle schon ziemlich früh in unserem Leben, und ich nehme an, dass auch du es bereits weißt. Falls du jetzt noch Probleme mit deiner Andersartigkeit hast, wirst du sehen, dass du mit zunehmendem Alter immer besser damit zurechtkommst. Du hast deine Familie und dein Zuhause verloren, aber du hast mich, deinen Onkel, und du hast Sheba, Lady Murasaki. Ist sie nicht eine Wonne? Ihr Vater nahm sie vor fünfundzwanzig Jahren zu einer Ausstellung von mir ins Tokyo Metropolitan mit. Ich hatte noch nie so ein schönes Kind gesehen. Fünfzehn Jahre später, als er Botschafter in Frankreich wurde, begleitete sie ihn nach Paris. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen und sprach auf der Stelle in der Botschaft vor, um ihm von meiner Absicht zu berichten, zum Shintoismus überzutreten. Er sagte jedoch nur, meine Religion spiele für ihn keine sonderlich große Rolle. Er hat mich nie richtig akzeptiert, aber er mag meine Bilder ... Apropos Bilder. Komm mal mit in mein Atelier.«
Sie gingen in einen großen, weiß gestrichenen Raum im obersten Geschoss des Château s. In Arbeit befindliche Leinwände standen auf Staffeleien, weitere lehnten an den Wänden. Auf einem niedrigen Podest befand sich eine Chaiselongue, und an einem Kleiderständer daneben hing ein Kimono. Nicht weit davon sah Hannibal eine Staffelei mit einer verhängten Leinwand.
Er folgte seinem Onkel in ein Nebenzimmer, in dem eine große Staffelei mit einem Block unbedruckten Zeitungspapiers, Kohle und mehreren Farbtuben stand.
»Ich habe hier einen Bereich nur für dich eingerichtet«, sagte der Graf. »Dein eigenes Atelier. Hier wirst du Erleichterung finden, Hannibal. Wenn du das Gefühl hast, jeden Moment zu explodieren, solltest du einfach zeichnen! Malen! Mit weit ausholenden Bewegungen und mit viel Farbe. Versuche nicht, irgendein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, wenn du zeichnest, und bemühe dich nicht um Finesse. Finesse bekommst du von Sheba zur Genüge.« Er schaute über die Bäume hinweg zum Fluss. »Wir sehen uns dann beim Mittagessen. Sag Madame Brigitte, sie möge dir eine Mütze heraussuchen. Am Nachmittag, nach dem Unterricht, gehen wir rudern.«
Nachdem der Graf gegangen war, begab sich Hannibal nicht sofort zu seiner Staffelei, sondern sah sich im Atelier seines Onkels dessen Arbeiten an. Er legte die Hand auf die Chaiselongue, berührte den Kimono und hielt ihn an sein Gesicht. Er stellte sich vor die verhängte Staffelei und hob das Tuch. Der Graf malte Lady Murasaki nackt auf der Chaiselongue. Das Bild sprang in Hannibals weit geöffnete Augen, Lichtpunkte tanzten in seinen Pupillen, Glühwürmchen glommen in seiner Nacht.
Der Herbst rückte näher, und Lady Murasaki veranstaltete mehrere Essen im Freien, bei denen sie den Erntemond betrachteten und den Herbstinsekten lauschten. Sie verfolgten den Mondaufgang, und wenn die Grillen verstummten, spielte Chiyoh im Dunkeln die japanische Zither. Hannibal musste sich immer nur vom leisen Wispern der Seide und von einem Duft leiten lassen, um stets genau zu wissen, wo Lady Murasaki gerade war.
Die französischen Grillen seien zwar kein Vergleich mit den singenden Suzumushis in Japan, erklärte ihm Graf Lecter, aber auch sie könnten sich durchaus hören lassen. Vor dem Krieg hatte er mehrere
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