Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Zustände im Château , so gut es ging, wiederherzustellen. Das Personal arbeitete zunächst nur für Kost und Logis, bis Robert Lecter wieder zu Palette und Pinsel griff.
Graf Lecter brachte seinen Neffen jetzt auf sein Zimmer. Der geräumige und helle Raum war für Hannibal mit Wandbehängen und Plakaten dekoriert worden, um dem Stein etwas von seiner Kälte zu nehmen. Hoch oben an der Wand hingen eine Kendo-Maske und gekreuzte Bambusschwerter.
Wenn Hannibal hätte sprechen können, hätte er nach Lady Murasaki gefragt.
15
Hannibal war sich in seinem Zimmer kaum eine Minute selbst überlassen, als er es klopfen hörte.
Chiyoh, Lady Murasakis Zofe, stand in der Tür, ein japanisches Mädchen etwa in Hannibals Alter, das Haar auf Ohrenhöhe gestutzt. Chiyoh taxierte ihn kurz, dann legte sich wieder ein undurchdringlicher Schleier über ihre Augen.
»Lady Murasaki schickt dir Gruß und Willkommen«, sagte sie. »Wenn du mir bitte folgen würdest ...« Artig und sehr auf Etikette bedacht führte ihn Chiyoh zum Badehaus in der ehemaligen Kelter des Château s.
Seiner Frau zuliebe hatte Graf Lecter das Kelterhaus in ein japanisches Bad umbauen lassen. Das große Fass der alten Presse war jetzt mit Wasser gefüllt, das in einem Goldberg-Boiler erhitzt wurde. Es roch nach Holzfeuer und Rosmarin. Um das Fass waren silberne Leuchter aufgestellt, die während des Krieges im Garten vergraben gewesen waren. Chiyoh zündete die Kerzen nicht an. Hannibal musste sich als Lichtquelle mit einer Glühbirne begnügen, bis hinsichtlich seiner Stellung Klarheit herrschte.
Chiyoh reichte ihm Handtücher und einen Bademantel und deutete auf eine Dusche in der Ecke. »Du musst dich erst säubern. Schrubb dich kräftig ab, bevor du ins Wasser steigst«, ordnete sie an. »Nach dem Bad wird der Koch ein Omelett für dich zubereiten, und dann musst du dich ausruhen.«
Sie bedachte ihn mit einer Grimasse, die ein Lächeln hätte sein können, warf eine Orange in das Badewasser und wartete vor dem Badehaus auf seine Kleider. Als er sie zur Tür hinausreichte, nahm sie die einzelnen Kleidungsstücke mit spitzen Fingern entgegen, hängte sie über einen Stock in ihrer anderen Hand und entfernte sich damit.
Es war Abend, als Hannibal abrupt erwachte, so, wie er im Heim immer aufgewacht war. Nur seine Augen bewegten sich, bis er erkannte, wo er war: Er lag frisch gewaschen in einem sauberen Bett im Château seines Onkels. Durch das Fenster glomm das letzte Licht der langen Dämmerung. Auf dem Stuhl neben dem Bett entdeckte er einen Baumwoll-Kimono. Er schlüpfte hinein.
Der Steinboden des Flurs fühlte sich angenehm kühl unter seinen Füßen an, die steinernen Stufen waren ausgetreten wie die in Burg Lecter. Als er draußen unter dem violetten Himmel war, konnte er Küchenlärm hören, Vorbereitungen fürs Abendessen.
Die Dogge sah ihn und wedelte, ohne aufzustehen, zweimal mit dem Schwanz.
Aus dem Badehaus drang der Klang einer japanischen Zither. Hannibal ging in die Richtung der Musik. Ein staubiges Fenster erglühte vom Schein der dahinter brennenden Kerzen. Hannibal warf einen Blick hinein. Neben dem Bad saß Chiyoh und zupfte die Saiten einer langen, eleganten Koto. Diesmal hatte sie die Kerzen angezündet. Der Boiler gluckerte. Das Feuer darunter knisterte, und die Funken flogen in die Höhe. Im Wasser lag Lady Murasaki, wie die Seerosen auf dem Burggraben, wo die Schwäne schwammen und nicht sangen. Hannibal, stumm wie die Schwäne, starrte durchs Fenster und breitete die Arme aus wie Flügel.
Dann zog er sich vom Fenster zurück. Als er in sein Zimmer zurückkehrte und wieder sein Bett aufsuchte, legte sich eine seltsame Schwere auf ihn.
Im Kamin des Schlafzimmers des Grafen glommen noch genügend Kohlen, um etwas Licht an die Decke zu werfen. In diesem heimeligen Halbdunkel begann Robert Lecters Puls unter Lady Murasakis Berührung und dem Klang ihrer Stimme schneller zu gehen.
»Als du verreist warst, ging es mir ähnlich wie in der Zeit, als du im Gefängnis eingesperrt warst«, sagte sie. »Ich musste an das Gedicht einer Vorfahrin denken, Ono no Komachi, die vor tausend Jahren gelebt hat.«
»Mhm.«
»Sie war sehr leidenschaftlich.«
»Ich kann es kaum erwarten, ihre Verse zu hören.«
»Hito ni awan tsuki no naki yo wa
omoiokite
mune hashiribi ni
kokoro yaki ori.
Kannst du die Musik in den Worten hören?«
Robert Lecters westliches Ohr war dazu zwar nicht in der Lage, aber er wusste, worin die Musik lag,
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