Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
blauen Räucherstäbchenrauchs wie einen fernen Vogelschwarm vorbeiziehen. Die blaue Vene in Lady Murasakis Unterarm, die durch die Beschäftigung mit den Blumen hervorgetreten war, verblasste, und die Sonne schien in zartem Rosa durch ihr Ohr. Hinter einem Wandschirm drangen leise Chiyohs Zitherklänge hervor.
Lady Murasaki lud Hannibal ein, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Ihre Stimme war ein angenehmer Alt mit einigen Nebentönen, wie man sie in westlichen Tonskalen nicht findet. Wenn sie sprach, hörte es sich für Hannibal an wie die zufällige Musik von Klangstäben.
»Wenn du keine französischen, englischen oder italienischen Wörter gebrauchen möchtest, könnten wir japanische verwenden. Kieuseru zum Beispiel. Das heißt ›verschwinden‹.« Sie steckte einen Blütenstiel in die Vase, hob den Blick und sah Hannibal an. »Meine Welt in Hiroshima wurde blitzartig zerstört. Und auch dir wurde deine Welt entrissen. Jetzt haben wir, du und ich, nur noch die Welt, die wir uns erschaffen – gemeinsam. In diesem Augenblick. In diesem Zimmer.«
Sie nahm ein paar Blumen von der Matte neben ihr und legte sie neben der Vase auf den Tisch. Hannibal hörte das Rascheln der Blätter und das Wispern ihres Ärmels, als sie ihm eine Blume reichte.
»Hannibal, wohin würdest du diese Blume in der Vase stecken, um die beste Wirkung zu erzielen? Ordne sie so an, wie du willst.«
Hannibal betrachtete die Blüten.
»Dein Vater hat uns einige der Zeichnungen geschickt, die du als kleiner Junge angefertigt hast. Du hast ein außerordentlich gutes Auge. Wenn du das Gesteck lieber zeichnen möchtest, verwende einfach den Block, der neben dir liegt.«
Hannibal überlegte. Dann nahm er eine zweite Blume und das Messer vom Tisch und betrachtete die Rundungen der Fenster und die Krümmung des Kamins, in dem ein Teekessel über dem Feuer hing. Er schnitt die Blumenstiele etwas kürzer, steckte sie in die Vase und schuf dadurch einen mit dem Gesteck und dem Zimmer harmonierenden Vektor. Die abgeschnittenen Stiele legte er auf den Tisch.
Lady Murasaki schien vom Ergebnis außerordentlich angetan. »Ah. Wir nennen das moribana , den ›geneigten Stil‹.« Sie ließ das seidene Gewicht einer Pfingstrose in seine Hand sinken. »Aber wohin würdest du diese stecken? Das heißt, wenn du sie überhaupt für das Gesteck benutzen würdest.«
Über dem Feuer des Kamins begann das Wasser im Teekessel zu kochen. Hannibal hörte es brodeln und schaute auf die Oberfläche der sprudelnden Flüssigkeit. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, und das Zimmer löste sich auf.
Mischas Badewanne auf dem Herd im Jagdhaus, der gehörnte Schädel des kleinen Rehbocks, der im brodelnden Wasser gegen die Wand der Wanne schlägt, als versuchte er zu entkommen. Das Klappern der Knochen im sprudelnden Wasser.
Und dann war Hannibal wieder bei sich, in Lady Murasakis Zimmer. Die Blüte der Pfingstrose, inzwischen blutig, war auf die Tischplatte gefallen, daneben war scheppernd das Messer gelandet. Hannibal hatte sich wieder im Griff. Seine blutende Hand hinter den Rücken haltend, stand er auf.
»Hannibal.«
Er öffnete die Tür.
»Hannibal.« Lady Murasaki hatte sich rasch erhoben und war jetzt bei ihm. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, hielt seinen Blick mit dem ihren fest, berührte ihn nicht, winkte nur mit den Fingern. Sie ergriff seine blutende Hand. Ihre Berührung machte sich in seinen Augen bemerkbar, eine geringfügige Veränderung der Größe seiner Pupillen.
»Das muss unbedingt genäht werden. Serge, der Chauffeur, soll uns in die Stadt fahren.«
Hannibal schüttelte den Kopf und deutete mit dem Kinn auf den Stickrahmen.
Lady Murasaki sah ihm in die Augen, bis sie Gewissheit hatte. »Chiyoh, wärst du bitte so gut, mir Nadel und Faden auszukochen?«
Am Fenster, wo das Licht am besten war, ließ sich Lady Murasaki von Chiyoh eine Nadel und ein um eine Ebenholzhaarnadel gewickeltes Stück Faden bringen, beides noch dampfend vom kochenden Teewasser. Sie hielt Hannibals Hand fest und nähte den Finger, sechs saubere, gleichmäßige Stiche. Auf die weiße Seide ihres Kimonos fielen Blutstropfen.
Hannibal sah sie die ganze Zeit unverwandt an. Er ließ sich seine Schmerzen nicht anmerken, schien an etwas anderes zu denken.
Er blickte auf den straffen Faden, der von der Haarnadel abgewi ckelt wurde. Die Krümmung des Nadelöhrs ist eine Funktion des Durchmessers der Haarnadel, dachte er. Buchseiten von Huyghens’ Abhandlung über das
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