Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
andere, besser geeignete Bildrollen, die dich interessieren könnten. Hannibal, dein Onkel und ich würden uns sehr freuen, wenn du ein Mann würdest, wie dein Vater einer war und dein Onkel einer ist.«
Hannibal warf einen fragenden Blick auf die Rüstung.
Lady Murasaki verstand, was er meinte. »Auch einer wie er? In mancher Hinsicht, ja, aber mit mehr Mitgefühl ...« Sie betrachtete die Rüstung, als hörte sie dieser zu. Dann wandte sie sich lächelnd wieder an Hannibal. »Aber auf Japanisch würde ich das in seiner Anwesenheit nicht sagen.« Sie kam mit dem Kerzenhalter in der Hand näher. »Hannibal, du kannst das Land deines Albtraums verlassen. Du kannst alles sein, was du dir vorzustellen vermagst ... Komm auf die Brücke der Träume. Wirst du mit mir kommen?«
Lady Murasaki war ganz anders als seine Mutter. Sie war nicht seine Mutter, aber er spürte auch sie in seiner Brust.
Möglicherweise wurde Lady Murasaki seine intensive Zu wendung zu viel; jedenfalls beschloss sie, die emotional aufgeladene Atmosphäre wieder zu entschärfen.
»Die Brücke der Träume führt überallhin, aber zuerst geht sie durch die Arztpraxis und das Klassenzimmer ... Kommst du mit?«
Hannibal folgte ihr, aber vorher nahm er die blutige Pfingst rose, die sich unter den anderen Blumen auf dem Altar be fand, und legte sie vor der Rüstung auf den Sockel.
17
Dr. J. Rufins Praxis befand sich in einem Stadthaus mit einem winzigen Garten. Auf dem schlichten Schild neben dem Eingangstor standen sein Name und seine Titel: Docteur en Médecine, Docteur en Lettres, Psychiatre .
Während Hannibal untersucht wurde, saßen Graf Lecter und Lady Murasaki im Wartezimmer mit Dr. Rufins Patienten, von denen einige Mühe hatten, still zu sitzen.
Das Sprechzimmer des Doktors war im viktorianischen Stil eingerichtet, mit zwei Lehnsesseln auf den beiden Seiten eines Kamins, einer Chaiselongue mit Fransenüberwurf und, näher bei den Fenstern, einem Untersuchungstisch und einem Sterilisierungsgerät aus Edelstahl.
Dr. Rufin, ein bärtiger Herr mittleren Alters, und Hannibal hatten sich in den Sesseln niedergelassen. Der Arzt sprach mit tiefer, beruhigender Stimme. »Während du zusiehst, wie das Pendel des Metronoms hin- und herschwingt, Hannibal, hin und her und hin und her, und während du dem Klang meiner Stimme lauschst, wirst du in einen Zustand versetzt werden, den wir Trance nennen. Ich werde dich nicht zum Sprechen auffordern, aber ich möchte, dass du einen stimmlichen Laut von dir gibst, um Ja oder Nein auszudrücken. Du verspürst tiefen Frieden, du lässt dich einfach treiben ...«
Auf dem Tisch, der zwischen ihnen stand, schlug das Pendel eines Metronoms gleichmäßig hin und her. Auf dem Kaminsims tickte eine mit Sternzeichen und Engeln bemalte Uhr. Während Dr. Rufin sprach, zählte Hannibal die Schläge des Metronoms und verglich sie mit denen der Uhr. Sie stimmten immer nur vorübergehend überein. Hannibal überlegte, ob sich die Länge des unsichtbaren Pendels im Innern der Uhr berechnen ließe, wenn er die übereinstimmenden und gegenläufigen Phasen zählte und die Pendellänge des Metronoms mäße. Während Dr. Rufin unablässig weitersprach, gelangte er zu der Überzeugung, dass dies möglich wäre.
»... irgendeinen Laut mit deinem Mund, Hannibal, egal welchen. Nur irgendeinen Laut.«
Den Blick brav auf das Metronom geheftet, wie es der Doktor verlangt hatte, machte Hannibal ein tiefes Furzgeräusch, indem er mit der aus seinem Mund entweichenden Luft die Oberlippe zum Vibrieren brachte.
»Sehr gut«, sagte Dr. Rufin. »Du bleibst ganz ruhig in deinem Trancezustand. Und welchen Laut sollen wir für ›Nein‹ nehmen? Für ›Nein‹, Hannibal. ›Nein‹.«
Hannibal machte ein hohes Furzgeräusch, indem er seine Unterlippe zwischen die Zähne nahm und an seiner oberen Zahnreihe entlang Luft aus den Backen presste.
»Das ist es, was man Kommunizieren nennt, Hannibal, und wie ich sehe, kannst du es. Glaubst du, wir können jetzt weitermachen, du und ich, wir beide?«
Hannibals Bejahung war so laut, dass sie auch im Wartezimmer zu hören war, wo einige Patienten schockierte Blicke austauschten. Graf Lecter schlug die Beine übereinander und räusperte sich. Lady Murasaki verdrehte ihre wunderschönen Augen langsam zur Decke.
Ein Mann, dessen Bewegungen denen eines Eichhörnchens ähnelten, sagte: »Das war aber nicht ich!« »Hannibal, ich weiß, dass du oft schlecht und unruhig schläfst«, sagte Dr. Rufin.
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