Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Ausstellungsstücke hatten schon ihre dritte Reise zwischen Frankreich und Deutschland hinter sich, nachdem sie zuerst von Napoleon in Deutschland gestohlen und nach Frankreich gebracht, dann von den Deutschen gestohlen und wieder nach Hause geschafft und schließlich von den Alliierten erneut nach Frankreich gebracht worden waren.
Im Erdgeschoss des Jeu de Paume fand Lady Murasaki ein erstaunliches Durcheinander westlicher Bilder vor. Einen Teil des großen Saals füllten blutrünstige religiöse Darstellungen, ein Schlachthaus gekreuzigter Christusse. Zur Abwechslung wandte sie sich der Fleischmahlzeit zu, einem heiteren Gemälde von einem üppigen Buffet, dem nur ein Springer-Spaniel zusprach, der im Begriff war, sich über einen saftigen Schinken herzumachen. Dahinter befanden sich riesige Leinwände, die der ›Schule von Rubens‹ zugeschrieben wurden. Auf ihnen waren vorwiegend rosig-rundliche Frauen inmitten wohlgenährter Babys mit Flügeln dargestellt.
Und genau dort entdeckte Inspektor Popil Lady Murasaki, in ihrem nachgemachten Chanel-Kostüm schlank und elegant vor Rubens’ üppigen Nackten stehend.
Wenig später sah der Inspektor auch Hannibal, der die Treppe vom unteren Geschoss heraufkam. Popil gab sich ihnen nicht zu erkennen, sondern zog sich noch tiefer in die Nische zurück, in der er stand, um sie unbemerkt zu beobachten.
Jetzt erblickten sie sich, die schöne japanische Lady und ihr Schützling. Popil war gespannt, wie sie sich begrüßen würden. Sie blieben etwa einen Meter voneinander entfernt stehen, und wenn sie sich auch nicht voreinander verneigten, nahmen sie die Anwesenheit des anderen doch mit einem Lächeln zur Kenntnis. Dann machten sie den letzten Schritt aufeinander zu und umarmten sich. Lady Murasaki küsste Hannibal auf die Stirn und strich ihm mit der Hand über die Wange, dann waren sie sofort in eine angeregte Unterhaltung vertieft.
Über der herzlichen Begrüßungsszene hing eine hervorragende Kopie von Caravaggios Judith enthauptet Holofernes . Vor dem Krieg hätte Inspektor Popil das vielleicht amüsant gefunden. Doch jetzt begann es in seinem Nacken zu prickeln.
Popil verließ seine Nische. Sobald Hannibal auf ihn aufmerksam wurde und zu ihm sah, deutete er mit dem Kopf auf ein kleines Büro nicht weit vom Eingang, in dem der Galerist Leet auf sie wartete.
»Der zentralen Sammelstelle in München zufolge wurde das Gemälde von Bellotto vor anderthalb Jahren an der polnischen Grenze einem Schmuggler abgenommen und konfisziert«, sagte Inspektor Popil.
»Hat er gesungen?«, fragte Leet. »Hat er seine Quelle genannt?«
Popil schüttelte den Kopf. »Der Schmuggler wurde im amerikanischen Militärgefängnis in München von einem deutschen Mithäftling erdrosselt. Dieser Häftling verschwand noch in derselben Nacht – wir nehmen an, dass er über die von Dragonovic eingerichtete Klosterroute außer Landes gebracht wurde. Jedenfalls führt diese Spur nicht mehr weiter.«
Popil wandte sich an Hannibal. »Das Bild Die Seufzerbrücke von Bernardo Bellotto hängt an Platz Nummer achtundachtzig, fast direkt in der Ecke. Monsieur Leet findet, es sieht nicht wie eine Fälschung aus. Glaubst du, du kannst mit Sicherheit feststellen, ob es das Gemälde aus deinem Elternhaus ist?«
»Ja.«
»Gut. Dann gehst du jetzt dort hinüber, Hannibal, und siehst dir das Bild aus der Nähe an. Und wenn es dein Gemälde ist, fasst du dich ans Kinn. Falls dich jemand wegen des Bildes anspricht, sagst du, du seist überglücklich, es wiedergefunden zu haben, und wer es gestohlen habe, interessiere dich eigentlich nur am Rande. Tu so, als ginge es dir nur ums Geld. Versuche den Anschein zu erwecken, dass du das Gemälde nur zurückbekommen willst, um es dann schnellstmöglich zu verkaufen, aber lass dabei unbedingt durchblicken, dass du auch das zweite Bild zurückhaben möchtest, die andere Darstellung der Seufzerbrücke. Spiel den Kapriziösen, Hannibal, gib dich selbstbezogen und verwöhnt«, fuhr Popil mit einem Eifer fort, der ihm nicht gut zu Gesicht stand. »Glaubst du, du bekommst das hin? Sieh zu, dass es mit deiner Tante zu Meinungsverschiedenheiten kommt. Der Interessent wird versuchen, eine Möglichkeit zu finden, mit dir Kontakt aufzunehmen. Für ihn ist die Sache unbedenklicher, wenn du mit Lady Murasaki uneins bist. Bestehe darauf, dass er dir eine Möglichkeit nennt, wie du mit ihm in Verbindung treten kannst. Ist so weit alles klar?« Er sah Hannibal eindringlich an.
Als
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