Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
schon geöffnet.
Hannibal versuchte, nicht mehr an das Mittagessen im Internat zu denken. Es hatte aus einem Gericht bestandet! das bei den Schülern nur »Märtyrerknochen« hieß. Mit entsprechend magenknurrendem Interesse überflog er deshalb im Vorübergehen die Speisekarten der Lokale. Er hoffte, in Bälde das nötige Geld für ein Geburtstagsessen zusammenzuhaben und hielt auf den Karten nach Seeigeln Ausschau.
Monsieur Leet von der Galerie Leet rasierte sich gerade für eine abendliche Verabredung, als Hannibal bei ihm klingelte, In der Galerie brannte noch Licht, aber die Vorhänge waren bereits zugezogen. Leet hatte die Ungeduld eines Belgiers gegenüber den Franzosen und den unstillbaren Drang, Amerikaner auszunehmen, von denen er glaubte, sie würden alles kaufen. Die Galerie war auf gegenständliche Malerei, kleine Statuen und Antiquitäten spezialisiert und vor allem für ihre Seestücke bekannt.
»Guten Abend, Monsieur Lecter«, begrüßte der Galerieinhaber Hannibal. »Schön, dich zu sehen! Ich hoffe, es geht dir gut. Leider muss ich dich bitten, dich einen Moment zu gedulden. Ich bin gerade dabei, ein Gemälde zu verpacken, das noch heute Abend nach Philadelphia in Amerika gehen soll.«
Hannibal hatte die Erfahrung gemacht, dass eine derart freundliche Begrüßung in der Regel knallhartes Geschäftsgebaren kaschierte. Er gab Monsieur Leet die Zeichnungen und einen Zettel, auf den er mit fester Hand den Preis geschrieben hatte. »Darf ich mich in der Zwischenzeit ein wenig umschauen?«
»Aber selbstverständlich.«
Es war schön, von der Schule fort zu sein und sich gute Bilder anzusehen. Nachdem er den Nachmittag damit zugebracht hatte, Segelboote auf einem Teich zu zeichnen, dachte er jetzt an Wasser, an die Probleme bei der Darstellung von Wasser. Er dachte an Turners Nebel und seine Farben, die sich unmöglich nachahmen ließen, ging von Bild zu Bild und betrachtete das Wasser und die Luft über dem Wasser. Schließlich blieb er vor einem kleinen Gemälde auf einer Staffelei stehen, das den Canal Grande in Venedig in strahlendem Sonnenschein zeigte, im Hintergrund die Kirche Santa Maria delia Salute.
Es war ein Guardi aus Burg Lecter. Hannibal wusste es, bevor er es wusste, ein Erinnerungsblitz auf der Innenseite seiner Augenlider. Da stand das vertraute Bild in seinem Rahmen vor ihm. Vielleicht war es eine Kopie. Er nahm es in die Hände und betrachtete es aufmerksam. Das Passepartout wies in der linken oberen Ecke ein kleines Muster aus braunen Flecken auf. Als er noch klein war, hatte er seine Eltern sagen hören, es handle sich dabei um ›Stockflecken‹, worauf er sich tagelang den Kopf darüber zerbrochen hatte, weshalb jemand mit einem Stock auf das Bild geschlagen haben könnte. Das Gemälde war keine Kopie. Der Rahmen in seinen Händen fühlte sich plötzlich heiß an.
Monsieur Leet kam in den Ausstellungsraum. Er runzelte die Stirn. »Wir rühren hier nichts an, solange wir nicht Vorhaben, es zu kaufen. Hier ist dein Scheck.« Der Galerist lachte. »Es ist eigentlich viel zu viel, aber für den Guardi wird es trotzdem nicht reichen.«
»Nein, diesmal noch nicht. Bis zum nächsten Mal, Monsieur Leet.«
29
Ungeduldig und ungehalten über den sanften Klang der Türglocke, pochte Inspektor Popil laut gegen die Eingangstür der Galerie Leet in der Rue des Saints-Peres. Nachdem ihm der Galerieinhaber geöffnet hatte, kam er sofort zur Sache.
»Woher haben Sie den Guardi?«
»Ich habe ihn von Kopnik gekauft, als wir das Geschäft aufgeteilt haben«, antwortete Leet. Mit einem Taschentuch betupfte er sein Gesicht und dachte, dass Popil in seinem ungeschlitzten Froschfressersakko furchtbar französisch aussah. »Seinen Aussagen zufolge hatte er es von einem Finnen erstanden. Einen Namen hat er allerdings nicht genannt.«
»Zeigen Sie mir die Expertise«, verlangte der Inspektor. »Außerdem müssten Sie in der Galerie auch die vom Amt für Kunstwerke und Denkmäler zusammengestellte Liste für Raubkunst haben. Zeigen Sie mir auch die.«
Der Galerist verglich die Liste der gestohlenen Kunstwerke mit seinem eigenen Katalog. »Hier, sehen Sie selbst, der gestohlene Guardi ist anders beschrieben. Robert Lecter hat das Gemälde unter dem Titel Ansicht von Santa Maria della Salute als gestohlen gemeldet, und ich habe dieses Bild als Ansicht des Canal Grande gekauft.«
»Ich habe hier eine richterliche Anordnung, das Gemälde zu beschlagnahmen – egal, welchen Titel es hat. Ich stelle
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