Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
Gebet nach draußen auf den Balkon kam, lagen noch Herbstgedanken auf ihren Zügen.
Sie nahmen das Abendessen im glühenden Zwielicht auf dem Balkon ein. Als sie bei den Nudeln angelangt waren, überraschte sie die im Dunkel hinter den Blumen verborgene Grille, von einem Stück Gurke angestachelt, das Hannibal durch die Gitterstäbe geschoben hatte, mit ihrem kristallklaren Gesang. Lady Murasaki schien zu denken, sie hörte sie im Traum. Und wieder stimmte die Grille ihr Lied an, den hellen Schlittenglockengesang der Suzumushi.
Der Schleier von Lady Murasakis Augen hob sich, sie war wieder in die Gegenwart zurückgekehrt. Sie lächelte Hannibal an. »Ich sehe, du singst mit der Grille im Gleichklang mit meinem Herzen.«
»Mein Herz hüpft bei Ihrem Anblick, die Sie mein Herz zu singen gelehrt haben.«
Über dem Gesang der Suzumushi ging der Mond auf. Der Balkon schien mit ihm in den Himmel emporzusteigen; er wurde in das Mondlicht hineingezogen und brachte Lady Murasaki und Hannibal an einen Ort hoch über der von Gespenstern heimgesuchten Erde, an einen Ort fern aller Bedrohung. Und sich gemeinsam dort aufzuhalten war genug.
Zum gegebenen Zeitpunkt würde Hannibal sagen, dass die Grille nur geliehen war und dass er sie bei abnehmendem Mond zurückbringen müsste. Es wäre besser, sie nicht zu lange in den Herbst hinein zu behalten.
28
Lady Murasaki führte ihr Leben mit einer stilvollen Eleganz, die sie mit Geschmack und entsprechendem Fleiß erzielte, und sie bediente sich dabei der Mittel, die ihr noch zur Verfügung standen, nachdem das Château verkauft und die Erbschaftssteuer bezahlt war. Sie hätte Hannibal alles gegeben, worum er bat, aber er bat um nichts.
Robert Lecter hatte zwar für die geringfügigen Kosten von Hannibals Ausbildung Vorsorge getragen, aber für nichts, was darüber hinausging.
Der wichtigste Bestandteil von Hannibals Etat war ein von ihm selbst verfasstes Schreiben. Es war mit ›Dr. Gamil Jolipoli, Allergologe‹ unterzeichnet und wies die Schulleitung darauf hin, dass Hannibal auf Kreidestaub extrem allergisch reagierte und deshalb möglichst weit entfernt von der Tafel sitzen sollte.
Da er hervorragende Noten hatte, wusste er, dass sich die Lehrer nicht groß darum kümmerten, was er trieb, solange es die anderen Schüler nicht mitbekamen und sich von seinem schlechten Beispiel anstecken ließen.
Nachdem es ihm freigestellt war, allein in einer Bank ganz hinten im Klassenzimmer zu sitzen, konnte er Tuschezeichnungen und Aquarelle von Vögeln im Stil Musashi Miyamotos anfertigen, während er mit halbem Ohr dem Unterricht folgte.
In Paris war zu dieser Zeit alles Japanische sehr en vogue. Hannibals Zeichnungen waren klein und für die begrenzten Wandflächen der Pariser Wohnungen geeignet; auch in den Reisekoffern von Touristen fanden sie mühelos Platz. Er signierte sie mit einem chinesischen Stempel, dessen Schriftzeichen »Ewigkeit in acht Pinselstrichen« bedeutete.
Im Quartier Latin gab es in den kleinen Galerien in der Rue des Saints-Peres und in der Rue Jacob einen Markt für diese Zeichnungen. Allerdings verlangten einige Galerien, dass er seine Arbeiten erst nach Geschäftsschluss vorbeibrachte, damit die Kunden nicht mitbekamen, dass die Zeichnungen von einem Jungen stammten.
Eines Tages im Spätsommer, als es im Jardin du Luxembourg nach der Schule noch Sonnenlicht gab, zeichnete er die Spielzeugsegelboote auf dem Teich, bis der Park geschlossen wurde. Dann ging er nach Saint-Germain, um die Galerien abzuklappern – Lady Murasakis Geburtstag rückte näher, und er hatte ein Auge auf ein ausgesprochen schönes Stück Jade in einem exklusiven Antiquitätengeschäft an der Place Furstenberg geworfen.
Die Bilder mit den Segelbooten verkaufte er einem Innenarchitekten in der Rue Jacob, aber die Zeichnungen im japanischen Stil hielt er für eine ausbeuterische kleine Galerie in der Rue des Saints-Peres zurück. Mit Rahmen und Passepartout machten die Zeichnungen mehr her, und er hatte einen guten Rahmenmacher aufgetan, der ihm Kredit gewährte.
Er trug die Bilder in seinem Rucksack den Boulevard Saint-Germain hinunter. Die Cafétische im Freien waren bis auf den letzten Platz besetzt. Vor dem Caf6 Flore hänselten Straßenclowns zur Belustigung der Gäste die auf dem Gehsteig vorbeikommenden Passanten. Die Jazzclubs in den kleinen Seitenstraßen zur Seine hin, in der Rue Saint-Benoit und in der Rue de l’Abbaye, waren noch geschlossen, aber die Restaurants hatten
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