Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
der Junge wortlos nickte, fuhr er fort: »Gut, dann werden Leet und ich jetzt da rausgehen. Lass uns noch ein paar Minuten Zeit, bevor auch du die Ausstellung betrittst ... Kommen Sie«, wandte sich Inspektor Popil an Leet, der neben ihm stand. »Was schleichen Sie so verdruckst herum? Wir tun hier nichts Unrechtes, Mann!«
Nachdem Hannibal, wie besprochen, das kleine Büro verlassen hatte, ging er wieder zu Lady Murasaki. Gemeinsam wanderten sie durch die Ausstellung, um schließlich vor einer Reihe kleiner Gemälde stehen zu bleiben.
Da, auf Augenhöhe, Die Seufzerbrücke. Ihr Anblick ging Hannibal näher als die Entdeckung des Guardi; mit diesem Bild sah er das Gesicht seiner Mutter vor sich.
Inzwischen strömten auch andere Besucher in die Ausstellung. Sie hatten Listen mit Kunstwerken in den Händen, Mappen mit Besitznachweisen unter den Arm geklemmt. Unter ihnen war ein großer Mann in einem Anzug, der so englisch aussah, dass die Jacke Bremsklappen zu haben schien.
Er hielt sich seine Liste unter die Nase und stand so dicht bei Hannibal und Lady Murasaki, dass er ihre Unterhaltung mithören konnte.
»Das ist eines der zwei Gemälde, die im Nähzimmer meiner Mutter hingen«, sagte Hannibal. »Als wir die Burg verlassen mussten, drückte sie es mir in die Hand und sagte, ich solle es dem Koch bringen. Sie schärfte mir ein, die Rückseite nicht schmutzig zu machen.«
Hannibal nahm das Bild von der Wand und drehte es um. In seinen Augen begannen Funken zu sprühen. Da, auf der Rückseite des Gemäldes, waren die mit Kreide gezeichneten Umrisse einer kleinen Kinderhand, größtenteils verwischt, nur noch Daumen und Zeigefinger erkennbar. Die Zeichnung war durch ein Stück Zellophan geschützt.
Hannibal betrachtete sie lange. Einen berauschenden Moment lang dachte er, Finger und Daumen bewegten sich, wie der Teil einer Welle.
Fast hätte er darüber Inspektor Popils Anweisungen vergessen. Wenn es dein Gemälde ist, fasst du dich ans Kinn.
Er holte tief Luft und gab das Zeichen.
»Das ist Mischas Hand«, sagte er zu Lady Murasaki. »Als ich acht war, haben sie im Obergeschoss der Burg die Zimmer gestrichen. Deswegen wurde dieses Bild abgehängt und zusammen mit dem anderen Gemälde auf einen Diwan im Zimmer meiner Mutter gelegt und mit einem Tuch zugedeckt. Mischa und ich krochen unter das Tuch, unter dem die Gemälde waren. Es war unser Zelt, und wir waren Beduinen in der Wüste. Ich nahm ein Stück Kreide aus der Tasche und zog damit auf der Rückseite des Bildes ihre Hand nach, um das böse Auge abzuhalten. Meine Eltern wurden sehr ärgerlich, aber an dem Gemälde war kein Schaden entstanden, und letztendlich fanden sie das Ganze sogar eher amüsant, glaube ich.«
Ein Mann mit einem Homburger auf dem Kopf kam eilends auf sie zu. An einer Schnur hing ein Ausweis um seinen Hals. Hannibal erinnerte sich an Popils Anweisung, Aufmerksamkeit zu erregen.
»Lass das!«, rief der Mann. »Die Bilder bitte nicht anfassen!«
»Wenn es mir nicht gehören würde, würde ich es auch nicht anfassen«, entgegnete Hannibal pampig.
»Solange du deinen Besitzanspruch nicht nachgewiesen hast, darfst du das Gemälde nicht berühren. Andernfalls muss ich dich des Gebäudes verweisen lassen. Ich werde sofort jemanden aus der Registratur holen.«
Als sich der Funktionär entfernte, gesellte sich der Mann in dem englischen Anzug zu ihnen. »Ich bin Alec Trebelaux«, stellte er sich vor. »Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.«
Inspektor Popil und Leet beobachteten den Annäherungsversuch aus zwanzig Meter Entfernung.
»Kennen Sie den Mann?«, fragte Popil den Galeristen.
»Nein«, antwortete Leet.
Trebelaux schlug Hannibal und Lady Murasaki vor, ihm in die Abgeschiedenheit eines Erkerfensters zu folgen. Er war ungefähr Mitte fünfzig, und sein kahler Schädel hatte die gleiche intensive Bräune wie seine Hände. Im guten Licht am Fenster wurden Schuppen in seinen Augenbrauen sichtbar. Hannibal hatte ihn nie zuvor gesehen.
Die meisten Männer waren immer hocherfreut, wenn sie Lady Murasaki erblickten. Trebelaux war es nicht, und sie spürte es trotz seines schmeichlerischen Gebarens sofort.
»Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Madame. Haben Sie die Vormundschaft über den jungen Herrn hier inne?«
»Madame ist meine geschätzte Ratgeberin«, sagte Hannibal. »Die Verhandlungen führe ich.«
Tu so, als ginge es dir nur ums Geld, hatte Popil gesagt. Sieh zu, dass es mit deiner Tante zu
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