Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
eine Auswahl an Waffen, ein Dragunow-Scharfschützengewehr, eine amerikanische Thompson-Maschinenpistole, zwei deutsche Schmeisser, fünf Panzerfäuste zum Einsatz gegen andere Boote und verschiedene Handfeuerwaffen. Der schmächtige Mann mit den hellblauen Augen wählte einen dreizackigen Fischspeer aus, von dessen Zinken die Widerhaken abgefeilt waren, und reichte ihn Kolnas.
»Ich werde ihn nicht besonders stark schlitzen«, sagte er beiläufig. »Eva ist nicht hier und kann deshalb hinterher nicht sauber machen. Den Rest erledigst du auf Deck, sobald wir herausgefunden haben, was er weiß. Aber durchlöchere ihn gut, damit die Tonne nicht an die Oberfläche steigt.«
»Das kann doch auch Milko ...«, setzte Kolnas an.
»Es war deine Idee, es geht um deinen Arsch, also machst du es auch gefälligst selbst. Schneidest du in deinem Restaurant nicht jeden Tag Fleisch? Milko wird ihn tot nach oben bringen und dir helfen, ihn in die Tonne zu packen, wenn du ihn genügend durchlöchert hast. Nimm dir seine Schlüssel, fahr zu seiner Wohnung, und durchsuch die Zimmer. Wenn nötig, räumen wir auch Leet, den Kunsthändler, aus dem Weg. Wir dürfen nichts dem Zufall überlassen. Und ab sofort ist eine Weile erst mal nichts mehr mit Kunst.« Der Bootsbesitzer, der sich in Frankreich Victor Gustavson nannte, sah Kolnas scharf an.
Gustavson war ein außerordentlich erfolgreicher Geschäftsmann, der in ehemaligem SS-Morphium und neuen Prostituierten machte. Hinter dem Namen verbarg sich Vladis Grutas.
Leet blieb am Leben, aber ohne eines seiner Gemälde. Es wurde mit vielen anderen jahrelang in einem Banktresor eingelagert, weil die Gerichte zu keiner Klärung in der Frage kamen, ob die lettischen Reparationsvereinbarungen auch für Litauen galten.
Trebelaux starrte blicklos aus seiner Tonne auf dem Grund der Marne, allerdings nicht länger kahlköpfig, weil inzwischen grünes Haar aus Algen und Wasserschrauben auf seinem Schädel spross und in der Strömung wallte wie die Locken seiner Jugend.
Jahrelang sollte kein weiteres Gemälde aus Burg Lecter mehr auftauchen.
Dank Inspektor Popils Zutun war es Hannibal Lecter im Lauf der folgenden Jahre möglich, die konfiszierten Gemälde von Zeit zu Zeit zu besichtigen. Er empfand es jedes Mal von Neuem als eine Zumutung, in der stumpfen Stille des Tresorraums unter dem aufmerksamen Blick eines Wachmanns zu sitzen, in Hörweite von dessen näselndem Atem.
Hannibal betrachtet das Gemälde, das er aus den Händen seiner Mutter entgegengenommen hat, und weiß, die Vergangenheit ist keineswegs Vergangenheit; die Bestie, die ihren stinkenden, heißen Atem auf seine und Mischas Haut gehechelt hat, atmet noch, in ebendiesem Moment. Er dreht Die Seufzerbrücke zur Wand und starrt minutenlang auf die Rückseite des Bildes – Mischas Hand wurde weggewischt, sodass jetzt nur noch ein leeres Viereck übrig ist, auf das er seine siedenden Träume projiziert.
Hannibal wächst und verändert sich, oder vielleicht kommt auch nur das zum Vorschein, was er immer schon gewesen ist.
II
Als ich sagte, dass die Gnade
In des Walds Umgrenzung stand,
Meinte ich die sanfte Bestie,
Die Klauen spitz, die Zähne blutig rot.
Lawrence Spingarn
33
Auf der Bühne der Pariser Oper war der Pakt abgelaufen, den Dr. Faust mit dem Teufel geschlossen hatte. Hannibal Lecter und Lady Murasaki verfolgten aus der Intimität einer Loge auf der linken Bühnenseite, wie Fausts Flehen, von den Höllenflammen verschont zu werden, an die feuerfeste Decke von Garniers großem Opernbau emporstieg.
Der inzwischen achtzehnjährige Hannibal stand ganz auf der Seite des Mephistopheles und hatte für Faust nur Verachtung übrig, aber er folgte dem dramatischen Höhepunkt der Oper nur mit halbem Ohr. Er betrachtete und atmete Lady Murasaki, die sich für die Aufführung besonders schön gemacht hatte. Von den Logen auf der gegenüberliegenden Seite kam immer wieder ein kurzes Aufblitzen herüber, wenn Männer ihre Operngläser von der Bühne abwandten, um einen Blick auf sie zu werfen.
Gegen die Lichter von der Bühne war sie nur als Silhouette zu erkennen, genau so, wie Hannibal sie vor Jahren im Château zum ersten Mal gesehen hatte. Die Bilder kamen der Reihe nach: Schillerndes Gefieder einer schönen Krähe, die aus der Regenrinne trinkt, Glanz von Lady Murasakis Haar. Zuerst ihre Silhouette, dann öffnet sie einen Fensterflügel, und das Licht berührt ihr Gesicht.
Hannibal war auf der Brücke der Träume
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