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Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising

Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising

Titel: Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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einen Katzensprung weiter, aus dem Polizeipräsidium am Quai des Orfèvres kam.
    Aus Notre-Dame schwebten die Klänge einer Chorprobe.
    Hannibal blieb unter dem mittleren Eingangsportal stehen und betrachtete die Reliefdarstellungen des Jüngsten Gerichts auf den Bögen und Fensterstürzen über der mächtigen Tür. Er zog sie für eine Ausstellung in seinem Gedächtnispalast in Betracht, um eine komplizierte Sektion der menschlichen Kehle darzustellen: Dort, auf dem oberen Fenstersturz, hielt der heilige Michael eine Waage in der Hand, als führte er selbst eine Obduktion durch. Sankt Michaels Waage wies eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Zungenbein auf, und sie wurde überspannt von den Heiligen des Schläfenbeins. Der untere Fensterbogen, auf dem die Verdammten in Ketten abgeführt wurden, wäre dann das Schlüsselbein, und die weiteren Bögen dienten in ihrer Aufeinanderfolge als die einzelnen Schichten der Kehle, nach dem einprägsamen Katechismus-Lehrsatz:

    Stemohyoid omohyoid thyrohyoid/juuugular, Amen.

    Nein, es ging nicht. Es lag an der Beleuchtung. Ausstellungsstücke im Gedächtnispalast mussten gut beleuchtet sein und großzügig gehängt, mit ausreichend Platz dazwischen. Außerdem war dieser schmutzige Stein farblich zu eintönig. Einmal hatte Hannibal eine Prüfungsfrage nicht beantworten können, weil die Antwort dunkel war und er sie in seinem Geist vor einen dunklen Hintergrund gestellt hatte. Die komplizierte Sezierung des zervikalen Dreiecks, die für kommende Woche angesetzt war, würde deutlich erkennbare Exponate in ausreichendem Abstand voneinander erfordern.
    Das lange Chorgewand über den Arm gehängt, kamen die letzten Sänger aus der Kathedrale ins Freie. Hannibal betrat die Kirche. Bis auf die Votivkerzen war es dunkel in Notre-Dame. Er ging zu der marmornen Jeanne d’Arc, die sich neben einem der Ausgänge auf der Südseite befand. Die vor ihr aufgereihten Kerzen flackerten in der Zugluft, die von der Tür kam. Hannibal lehnte sich im Dunkeln an einen Pfeiler und sah durch die Flammen auf ihr Gesicht.

    Feuer auf den Kleidern seiner Mutter.

    Die Kerzenflammen spiegelten sich rötlich in seinen Augen. Das Licht spielte über die heilige Johanna und verlieh ihrem Gesicht unterschiedliche Ausdrücke, wie zufällige Melodien von Klangstäben. Erinnerung, Erinnerung. Hannibal fragte sich, ob die heilige Johanna mit ihren Erinnerungen lieber andere Votivgaben gehabt hätte als das Feuer der brennenden Kerzen. Seine Mutter bestimmt, daran bestand für ihn nicht der geringste Zweifel.
    Die Schritte des Küsters näherten sich, seine klimpernden Schlüssel hallten zunächst von den nahen Wänden wider, dann von der hohen Decke, auch seine Schritte ertönten doppelt, als sie vom Fußboden aufstiegen und aus der Unermesslichkeit des Dunkels darüber zurückgeworfen wurden.
    Als Erstes sah der Küster Hannibals Augen, die hinter den Kerzenflammen rot leuchteten, und tief in seinem Innern regte sich eine sehr elementare Angst. Seine Nackenhaare stellten sich auf, und er machte mit seinen Schlüsseln das Kreuzzeichen. Ah, es war nur ein Mann, und ein junger noch dazu. Der Küster schwenkte die Schlüssel vor sich hin und her wie ein Weihrauchgefäß.
    »Es ist Zeit«, sagte er und deutete mit dem Kinn.
    »Ja, es ist Zeit und sogar schon über die Zeit«, antwortete Hannibal und ging durch die Seitentür in die Nacht hinaus.

35

    Auf dem Pont au Double über die Seine und dann die Rue de la Bûcherie hinunter, wo er aus einem Jazzclub ein Saxofon und Gelächter dringen hörte. Im Eingang ein rauchendes Pärchen, von einem Hauch von Kif umgeben. Das Mädchen stellte sich auf die Zehenspitzen, um den jungen Mann auf die Wange zu küssen, und Hannibal spürte den Kuss ganz deutlich auf seinem Gesicht. Musikfetzen, vermischt mit der Musik, die in seinem Kopf lief, immer im Takt und im Einklang mit der Zeit. Zeit.
    Die Rue Dante hinunter und über den breiten Boulevard Saint-Germain, er konnte das Mondlicht auf seinem Kopf spüren, und hinter dem Cluny zur Rue de l’École de Médecine und zum Nachteingang des medizinischen Instituts, wo eine schwache Lampe brannte. Hannibal schloss die Tür auf und ging nach drinnen.
    Er war allein in dem Gebäude, schlüpfte in einen weißen Kittel und griff nach dem Schreibbrett mit seiner Aufgabenliste. Hannibals Mentor und Doktorvater am medizinischen Institut war Professor Dumas, ein begnadeter Anatom, der es vorzog, zu unterrichten, statt an den Lebenden zu

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