Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
trübt dein Urteil. Inspektor Popils Interesse an dir lässt nur deshalb nicht nach, weil du ihn faszinierst.«
»Nein, Mylady, Sie faszinieren ihn. Ich bin sicher, er belästigt Sie mit seinen Gedichten ...«
Lady Murasaki vermied es, Hannibals Neugier zu befriedigen. »Er weiß, dass du der Beste deines Jahrgangs bist«, sagte sie stattdessen. »Das erfüllt ihn mit Stolz. Sein Interesse ist vorwiegend gutartiger Natur.«
»›Vorwiegend gutartig‹ ist keine sehr erfreuliche Diagnose.«
Die Bäume auf der Place des Vosges, duftend in der Frühlingsnacht, trieben Blüten. Als Hannibal das Taxi fortschickte, spürte er sogar im Dunkel der Eingangsnische Lady Murasakis kurzen Blick. Hannibal war kein Kind mehr, er übernachtete nicht mehr hier.
»Ich habe noch eine Stunde Zeit, und ich möchte zu Fuß gehen«, sagte er.
34
»Für eine Tasse Tee reicht die Zeit doch sicherlich noch«, sagte Lady Murasaki. Sie führte ihn unverzüglich auf den Balkon, denn sie zog es eindeutig vor, im Freien mit ihm zusammen zu sein. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Er hatte sich verändert und sie nicht. Ein leichter Windstoß, und die Flamme der Öllampe reckte sich in die Höhe. Als Lady Murasaki grünen Tee in die Schalen goss, konnte er den Puls an ihrem Handgelenk sehen, und der zarte Duft aus ihrem Ärmel drang in ihn ein wie ein Gedanke von ihm selbst.
»Ich habe von Chiyoh einen Brief bekommen«, sagte sie. »Sie hat ihre Verlobung gelöst. Sie hält nichts mehr von Diplomatie.«
»Ist sie glücklich?«
»Ich denke schon. Nach überkommener Sicht war es eine gute Partie. Doch wie könnte ich ihren Schritt missbilligen? Sie schreibt, dass sie tut, was ich getan habe: ihrem Herzen folgen.«
»Und wohin folgt sie ihm?«
»Zu einem jungen Mann an der Kyoto University. Er möchte Ingenieur werden.«
»Ich wünsche mir sehr, dass sie glücklich wird.«
»Ich wünsche mir sehr, dass du glücklich wirst. Kannst du eigentlich schlafen, Hannibal?«
»Wenn Zeit dazu ist. Wenn ich nicht in meinem Zimmer schlafen kann, mache ich auf einer Bahre ein Nickerchen.«
»Du weißt, was ich meine.«
»Ob ich träume? Ja. Suchen Sie in Ihren Träumen nicht auch immer wieder Hiroshima auf?«
»Ich lade meine Träume nicht ein.«
»Ich muss mich erinnern, egal wie.«
An der Tür drückte sie ihm eine Bento-Box mit ein paar Kleinigkeiten zu essen für die Nacht und mehrere Beutel mit Kamillentee in die Hand. »Damit du gut schläfst«, sagte sie.
Er küsste Lady Murasakis Hand, aber nicht mit der kleinen Verneigung französischer Galanterie, nein, er küsste ihren Handrücken so, dass er ihn schmecken konnte.
Hannibal wiederholte den Haiku, den er vor so langer Zeit für sie geschrieben hatte, in der Nacht des Metzgers.
Der nächtliche Reiher,
Vom aufgehenden Erntemond enthüllt -
Welcher von beiden ist liebreizender?
»Jetzt ist aber nicht Erntezeit«, sagte sie lächelnd und legte ihre Hand auf sein Herz, wie sie es tat, seit er dreizehn Jahre alt gewesen war. Und dann nahm sie ihre Hand fort, und die Stelle auf seiner Brust fühlte sich kalt an.
»Bringst du deine Bücher tatsächlich zurück?«
»Ja.«
»Also kannst du dir alles merken, was in den Büchern steht?«
»Alles Wichtige.«
»Dann kannst du dir auch merken, dass es wichtig ist, Inspektor Popil nicht zu reizen. Solange er nicht provoziert wird, ist er harmlos für dich. Und für mich.«
Sie hat sich Gereiztheit übergestreift wie einen Winterkimono. Wenn ich mir das bewusst mache, kann ich mich dann davon abbringen, daran zu denken, wie ich sie vor so langer Zeit im Badehaus des Château s gesehen habe, ihr Gesicht und ihre Brüste wie Wasserpflanzen? Wie die rosa- und cremefarbenen Seerosen auf dem Burggraben? Kann ich das ? Nein, ich kann es nicht.
Bis zur nächsten Straßenecke begleitete ihn noch ein unbehagliches Gefühl, als er in die Nacht hinausschritt. Er ging durch die schmalen Straßen des Marais, unter den Arkaden der Rue Rivoli hindurch und quer über die Spitze der Ĭle Saint-Louis, wo die Seine unter dem Pont hindurchströmte und der Pont vom Mond berührt wurde.
Von Osten gesehen, war Notre-Dame mit seinen frei stehenden Strebepfeilern und den vielen Augen seiner runden Fenster wie eine riesige Spinne. Hannibal konnte die steinerne Spinnenkathedrale im Dunkeln in der Stadt herumhuschen sehen, sich einen Zug vom Gare d’Orsay als Leckerbissen schnappen oder, noch besser, einen nahrhaften Polizeiinspektor, der gerade, nur
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