Hannibal
Beben, irgendein Verrat unserer Schutzwachen, und die Funken des Gedächtnisfeuers entzünden verderbliche Gase Dinge, seit Jahren eingeschlossen, gieren nach Freiheit, explodieren in Schmerz und stacheln uns zu gefährlichem Verhalten an ... Furchtsam und verwundert folgen wir ihm, wie er schnell und leicht den von ihm entworfenen Gang entlangeilt. Der Duft von Gardenien, die Gegenwart berühmter Plastiken und das Licht der Bilder drängen sich uns auf. Sein Weg führt ihn nach rechts an einer Büste von Plinius vorbei, die Treppe zur Halle der Adressen empor, einem Raum, in dem sich, der Empfehlung Ciceros folgend, hell erleuchtet Statuen und Bilder in einer genau festgelegten Ordnung, mit ausreichend Raum um sich herum, aufreihen. Ah ... Der dritte Alkoven von der Tür auf der rechten Seite wird von einem Gemälde des heiligen Franziskus eingenommen, der einen Nachtfalter an einen Star verfüttert. Auf dem Boden vor dem Bild ist in Lebensgröße ein Tableau in bemaltem Marmor arrangiert: eine Parade auf der Heldengedenkstätte in Arlington, angeführt von einem dreiunddreißig Jahre alten Jesus, der einen 27er Ford, Modell-T, »Tin Lizzie«, fährt; auf der Ladefläche steht J. Edgar Hoover mit zwei Zweigen im Haar und winkt einer unsichtbaren Menge zu; hinterdrein marschiert Clarice Starling, ein .308er Enfield-Gewehr geschultert. Dr. Lecter scheint erfreut zu sein, Starling zu sehen. Vor langer Zeit schon hat er sich Starlings Privatadresse von der Alumni-Verbindung der Universität Virginia verschafft. Er bewahrt die Adresse in diesem Tableau, und nun läßt er sich zu seinem eigenen Vergnügen die Nummer und den Namen der Straße, in der Starling lebt, kommen: 3327 Tindal Arlington, VA 22308 Dr. Lecter kann sich durch die riesigen Hallen seines Gedächtnispalasts mit übernatürlicher Geschwindigkeit bewegen. Mit seinen Reflexen und seiner Stärke, dem Auffassungs- und dem Denkvermögen seines Geistes tritt Dr. Lecter gut gewappnet der physischen Welt gegenüber. Aber es gibt Orte in ihm, wo auch er nicht sicher ist, wo Ciceros Gesetze der Logik, des geordneten Raumes und des Lichts nicht gelten ... Er hat beschlossen, seine Sammlung antiker Stoffe aufzusuchen. Für einen Brief, den er an Mason Verger zu schreiben gedenkt, will er einen Text von Ovid zu dem Thema aromatisierte Gesichtsöle einsehen, der an eine der Webereien gesteckt ist. Er eilt auf einem interessant gemusterten Kelim-Läufer der Halle mit Webstühlen und Webereien entgegen. In der Welt der 747 ist Dr. Lecters Kopf gegen den Sitz gepreßt, seine Augen sind geschlossen. Sein Kopf bewegt sich sanft auf und ab, als das Flugzeug in eine Turbulenz gerät. Auf dem Sitz außen hat das Baby sein Fläschchen leergetrunken und ist noch nicht wieder eingeschlafen. Sein Gesicht rötet sich. Die Mutter fühlt, wie sich der Körper des Kleinen unter der Decke verkrampft und dann wieder entspannt. Es steht außer Frage, was passiert ist. In der Reihe davor stöhnt jemand: »Jeeeesus.« Der abgestandenen Luft im Flugzeug, die fatal an den Gestank in einem Fitneßstudio erinnert, wird eine neue Duftnote hinzugefügt. Der kleine Junge neben Dr. Lecter, abgehärtet gegenüber den Gewohnheiten des Babys, ißt ungerührt den Lunch von Fauchon. Unterhalb des
Gedächtnispalasts fliegen die Sperrklappen auf, den Verliesen entweicht ein gräßlicher Gestank ... Ein paar Tiere hatten den Artilleriebeschuß und das Maschinengewehrfeuer des Angriffs überlebt, dem Hannibal Lecters Eltern zum Opfer gefallen waren und der große Teile des Waldes auf deren Besitz verwüstet und zerstört hatte. Die bunt zusammengewürfelte Gruppe von Deserteuren, die sich in der abgelegenen Jagdhütte eingenistet hatten, aßen alles, was ihnen unter die Finger kam. Einmal trieben sie einen armseligen, kleinen, knochigen Hirschen mit einem Pfeil im Rücken auf, der es geschafft hatte, unter dem Schnee Nahrung zu finden und zu überleben. Sie führten ihn, um ihn nicht schleppen zu müssen, ins Lager zurück. Hannibal Lecter, sechs Jahre alt, beobachtete sie durch einen Spalt in der Scheune, wie sie den Hirschen herbeizerrten. Das Tier wand den Kopf und zog an dem Seil, das sie ihm um den Hals gelegt hatten. Sie wollten keinen Schuß abfeuern und traten ihm statt dessen die Beine weg. Dann hackten sie ihm mit einer Axt den Hals auf. Dabei fluchten sie in den unterschiedlichsten Sprachen, daß jemand eine Schale herbeischaffen solle, bevor das Blut vergeudet sei. Der lächerlich kleine Hirsch
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