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Hannibal

Hannibal

Titel: Hannibal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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bot nicht viel Fleisch, und schon nach zwei Tagen, vielleicht auch drei, kamen sie in ihren langen Übermänteln, mit ihrem stinkenden und dampfenden Atem von der Jagdhütte durch den Schnee, schlössen die Scheune auf und wählten wieder unter den im Stroh kauernden Kindern eines aus. Da keines von ihnen erfroren war, nahmen sie sich ein lebendes. Sie befühlten Hannibal Lecters Hüfte, seinen Oberarm und seine Brust. Schließlich wählten sie seine Schwester Mischa aus und führten sie weg. Zum Spielen, sagten sie. Niemand, den sie zum Spielen schickten, kehrte je wieder zurück. Hannibal hielt Mischa so fest umschlungen, hielt sie mit so zähem Griff fest, daß sie die schwere Scheunentür auf ihn krachen ließen, um ihn zu überwältigen. Dabei brachen sie ihm den Oberarm. Sie führten sie durch den Schnee fort, der noch immer voller Blutflecke von dem Hirschen war. Er betete inbrünstig darum, Mischa wiedersehen zu dürfen. Das Gebet füllte seinen sechs Jahre alten Geist vollständig aus, konnte aber nicht das Geräusch der sausenden Axt übertönen. Seine Gebete, sie wiedersehen zu dürfen, verhallten dennoch nicht ganz ungehört - er sah ein paar von Mischas Milchzähnen in dem stinkenden Loch wieder, in das seine Häscher schissen. Sie hatten es zwischen der Jagdhütte, wo sie schliefen, und der Scheune ausgehoben, in der sie die gefangenen Kinder nach dem Zusammenbruch der Ostfront 1944 als Nahrung vorhielten. Seit dieser partiellen Antwort auf seine Gebete war Hannibal Leder nicht mehr von irgendwelchen Überlegungen hinsichtlich Gott belästigt worden, sah man einmal davon ab, daß er begriff, wie sehr sein eigenes bescheidenes räuberisches Verhalten neben dessen Raubzügen verblaßte. Gott, der auf dem Feld der Ironie ungeschlagen und in seiner unbarmherzigen Bosheit maßlos ist. In dem unruhigen Flugzeug, den Kopf sanft gegen die Kopfstütze schlagend, wird Dr. Lecter zwischen seinem letzten Blick auf Mischa, die den blutigen Schnee überquert, und dem Geräusch der niedergehenden Axt in der Schwebe gehalten. Er wird dort festgehalten und hält es nicht aus. In der Welt des Flugzeugs kommt ein hoher, dünner, durchdringender Schrei aus seinem schweißnassen Gesicht. Passagiere vor ihm drehen sich um. Einige wachen auf. Jemand in der Reihe vor ihm knurrt: »Du meine Güte, Kind, was ist bloß los mit dir? Großer Gott!« Dr. Lecter schlägt die Augen auf, schaut geradeaus, eine Hand liegt auf der seinen. Es ist die des kleinen Jungen. »Hast wohl schlecht geträumt, huh?« Das Kind ist weder verschreckt, noch kümmert es sich um die Beschwerden in den Reihen vor ihnen. »Ja.« »Ich habe auch schon oft schlechte Träume gehabt. Ich lache nicht über dich.« Dr. Lecter atmet ein paarmal, den Kopf gegen den Sitz gepreßt, tief durch. Dann gewinnt er seine Fassung zurück. Seine Gesichtszüge entspannen sich vom Haaransatz aus. Er beugt den Kopf zu dem Jungen herunter und sagt in vertraulichem Ton: »Weißt du, du hast vollkommen recht, wenn du diesen Saufraß nicht ißt. Iß ihn niemals, unter gar keinen Umständen.« Fluggesellschaften versorgen einen nicht länger mit Schreibpapier. Dr. Lecter, der sich wieder vollkommen unter Kontrolle hat, zieht das Briefpapier irgendeines Hotels aus seiner Brusttasche und beginnt einen Brief an Clarice Starling. Zuerst zeichnet er ihr Gesicht. Die Zeichnung befindet sich heute in Privatbesitz und ist in der Universität Chicago Gelehrten zugänglich. Auf ihr sieht Starling wie ein Kind aus. Das Haar klebt ihr wie das von Mischa auf der tränenverschmierten Wange ... Wir können das Flugzeug durch den Eishauch unseres Atems sehen, ein helleuchtender Lichtpunkt am sternenklaren Nachthimmel. Wir können ihn weit jenseits des point of no return über dem Polarstern ausmachen, wie er auf einem großen Bogen dem Morgen in der Neuen Welt entgegeneilt.

KAPITEL 49
    Die Berge an Papier, Akten und Disketten in Starlings Bürowabe erreichten eine kritische Masse. Ihre Anfrage nach mehr Raum blieb unbeantwortet. Genug. Mit der Verwegenheit der Verdammten nahm sie ein geräumiges Zimmer im Keller von Quantico in Beschlag. Das Zimmer sollte eigentlich die Dunkelkammer der Abteilung für Verhaltensforschung werden, sobald der Kongreß die entsprechenden Gelder dafür bewilligt hätte. Es hatte keine Fenster, dafür aber um so mehr Regale und, da es als Dunkelkammer gebaut worden war, statt einer Tür doppelte lichtundurchlässige Vorhänge. Irgend jemand aus den benachbarten

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