Hannibal
einer
Pythonschlange. Der Junge neben ihm ist über seinem
Computerspiel eingeschlafen. In dem breiten Flugzeugrumpf verlöschen nach und nach die Leselampen. Jetzt, und erst jetzt, nach einem flüchtigen Blick in die Runde, bückt sich Dr. Lecter und holt unter dem Sitz vor ihm sein eigenes in eine elegante gelbe Schachtel verpacktes Abendessen hervor, das von Fauchon, dem Pariser Feinkosthändler, stammt. Es ist mit zwei farblich geschmackvoll aufeinander abgestimmten, hauchzarten Seidcnbändern verschnürt. Dr. Lecter hat sich mit wunderbar duftender, getrüffelter »Pate de foie gras« und anatolischen Feigen versorgt, die noch von ihren harten Stielen weinen. Er hat eine Halbliterflasche eines St. Estephe, den er bevorzugt. Die Seidenschleife fällt mit einem leichten Wispern auseinander. Dr. Lecter will gerade eine Feige kosten, hält sie an seine Lippen, seine Nasenflügel zittern leicht, als er ihren Duft einatmet, und überlegt, ob er die Feige mit einem einzigen herrlichen Bissen oder nur zur Hälfte verspeisen soll, als der Gameboy neben ihm zu piepsen anfängt. Er piepst noch einmal. Ohne den Kopf zu wenden, läßt der Doktor die Feige in seiner Handfläche verschwinden und blickt auf das Kind neben sich herunter. Der Duft von Trüffeln, Foie gras und Cognac steigt aus der offenen Schachtel auf. Der kleine Junge schnuppert. Seine schmalen Augen, die wie die eines Nagetiers glänzen, wenden sich Dr. Lecters Abendessen zu. Er spricht mit der spitzen Stimme eines an Konkurrenz gewöhnten Kindes: »Hey, Mister. Hey, Mister.« Er wird nicht von allein aufhören. »Was liegt an?« »Ist das eines dieser Super-Dooper-Sondermenüs?« »Ist es nicht.« »Was hast du denn dann da drin?« Das Kind blickte, ganz der kleine Charmeur, zu Dr. Lecter auf. »Läßt du mich mal beißen?« »Das würde ich ja liebend gern«, antwortete Dr. Lecter, wobei er ganz nebenbei feststellte, daß der Nacken unter dem viel zu großen Kopf des Jungen kaum größer war als ein Schweinefilet, »aber du wirst es nicht mögen. Es ist Leber.« »Leberwurst! Is ja fett! Mom hat bestimmt nichts dagegen, Mooaaaaahm!« Was für ein ungewöhnliches Kind, das Leberwurst liebte und entweder quengelte oder schrie. Die Frau mit dem Baby im Arm am Rand der Sitzreihe wurde wach. Reisende in der Reihe vor ihm, deren Sitze so weit nach hinten gestellt waren, daß Dr. Lecter ihr Haar riechen konnte, spähten durch den Spalt zwischen den Sitzen und beschwerten sich: »Hier gibt es Leute, die schlafen wollen.« »Mooooaaaahm, darf er mir was von seinem Sammmwich abgeben?« Das Baby im Schoß der Mutter wachte auf und begann zu schreien. Die Mutter schob prüfend einen Finger in die Windel. Das Ergebnis viel negativ aus, woraufhin sie dem Kleinen einen besänftigenden Klaps gab. »Was wollen Sie meinem Sohn da andrehen, Sir?« »Es ist Leber, Madame«, sagte Dr. Lecter so ruhig wie möglich. »Ich habe ihm noch nichts gegeben.« »Leberwurst, meine Lieblingswurst, will ich haben. Darf ich, darf ich, wo er doch ...« Der Junge zerdehnte das letzte Wort zu einem langgezogenen Quengeln. »Sir, wenn Sie meinem Kind etwas geben wollen, dürfte ich das wohl mal sehen?« Die Stewardess, deren gerötetem Gesicht man ansah, daß sie aus dem Schlaf gerissen worden war, blieb neben dem Sitz der Frau stehen, als das Baby heulte. »Alles in Ordnung hier? Benötigen Sie irgend etwas? Soll ich Ihnen ein Fläschchen wärmen?« Die Frau holte ein verschlossenes Milchfläschchen hervor und gab es der Stewardess. Sie schaltete ihre Leselampe an und rief, während sie nach einem Schnuller suchte, Dr. Lecter zu: »Würden Sie es mir bitte rüberreichen? Falls Sie etwas meinem Kind geben wollen, muß ich es vorher sehen. Nichts für ungut, aber er hat einen nervösen Magen.« Wir geben unsere kleinen Kinder ohne viel Aufhebens den Tag über in die Obhut von Fremden. Zur gleichen Zeit legen wir, schuldbewußt, wie wir sind, Fremden gegenüber Paranoia an den Tag und halten in unseren Kindern die Angst vor Fremden wach. In Situationen wie diesen muß das ein echtes Ungeheuer über sich ergehen lassen, sogar ein Ungeheuer, das so teilnahmslos Kindern gegenüber ist, wie Dr. Lecter. Er reichte die Schachtel von Fauchon der Mutter. »Hey, klasse Brot«, sagte sie und drückte es mit ihrem
Windelfinger. »Madame, erlauben Sie mir, es Ihnen anzubieten.« »Den Schnaps will ich aber nicht«, sagte sie und schaute sich beifallheischend um. »Ich habe gar nicht gewußt, daß sie einem
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