Hannibal
und Windsor, Kanada. Die Schulterbreite der Sitze beträgt kaum mehr als fünfzig Zentimeter. Die Sitzfläche zwischen den Armlehnen ebenso. Das entspricht fünf Zentimetern mehr, als ein Sklave auf der Schiffsreise in die Neue Welt hatte. Die Passagiere werden mit eiskalten Sandwiches traktiert, die mit glitschiger Wurst und Schmelzkäse belegt sind. Sie atmen mit der wiederaufbereiteten Luft die Fürze und den verbrauchten Atem der anderen ein, eine Variation der Mixtur aus vergorenen tierischen Abfällen, wie sie von den Rinder- und Schweinezüchtern in den fünfziger Jahren eingeführt wurde. Dr. Hannibal Lecter sitzt in der Mitte einer Mittelreihe in der Economy Class. Zu beiden Seiten von ihm Kinder und am Ende der Reihe eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm. Nach so vielen Jahren in Zellen und in Haft schätzt es Dr. Lecter nicht sehr, beengt zu sein. Ein Gameboy auf dem Schoß des Jungen neben ihm piepst ununterbrochen. Wie viele andere der über die Billigplätze verteilten Passagiere trägt Dr. Lecter einen schreiend gelben Smiley-Button mit dem CANAMTOURS-Logo in großen roten Buchstaben. Und genau wie die Touristen trägt er einen nachgemachten Trainingsanzug, seiner ist mit dem Logo der »Toronto Maple Leafs«, einem Hockey-Team, geschmückt. Darunter hat er eine beträchtliche Summe Bargeld mit Heftpflaster an seinen Körper geklebt. Dr. Lecter reist bereits seit drei Tagen mit der Gruppe. Den Platz hat er bei einem Pariser Broker erstanden, der mit krankheitsbedingt freigewordenen Plätzen handelt. Der Mann, der an seiner Statt den Platz hätte einnehmen sollen, kehrt in einem Sarg nach Kanada zurück, nachdem sein Herz beim Besteigen des St.-Petersdoms den Geist aufgegeben hatte. Wenn er in Detroit ankommt, muß Dr. Lecter durch die Paß- und Zollkontrolle. Er darf sich sicher sein, daß die Sicherheitskräfte und Zollbeamten auf jedem größeren Flughafen der westlichen Welt in Alarmbereitschaft versetzt worden sind und nach ihm Ausschau halten. Dort, wo sein Bild nicht an der Wand der Paßkontrolle hängt, wartet es unter dem Alarmknopf in jedem Rechner des Zolls oder der Einwanderungsbehörde. Trotz allem glaubt er, daß er Glück haben könnte: Die Bilder, die die Behörden verwenden, zeigen sein altes Gesicht. Der falsche Paß, den er zur Einreise nach Italien benutzte, weist keine Verbindung zu einer Akte in seinem Heimatland auf, die ein aktuelles Bild hätte beinhalten können: In Italien hatte Rinaldo Pazzi versucht, sich das Leben ein wenig leichter zu machen und Mason Verger zufriedenzustellen, indem er die Akte der Carabinieri an sich nahm, inklusive Foto und Negativ, das bei »Dr. Fells« permesso di soggiorno und Arbeitserlaubnis benutzt wurde. Dr. Lecter entdeckte sie in Pazzis Aktentasche und vernichtete sie. Sofern Pazzi »Dr. Fell« nicht heimlich fotografiert hat, stehen die Chancen nicht schlecht, daß von Dr. Lecters neuem Gesicht weltweit kein aktuelles Foto existiert. Es unterscheidet sich nicht sehr von seinem alten - ein wenig Collagen um die Nase und an den Wangen, eine andere Haarfarbe, Brille -, aber es ist hinreichend verändert, wenn man dem Gesicht keine besondere Aufmerksamkeit entgegenbringt. Auf die Narbe auf seiner Hand hat er ein langhaftendes Schönheits - und Bräunungsmittel aufgetragen. Er nimmt an, daß die Einwanderungsbehörde am Detroit Metropolitan Airport die ankommenden Reisenden in zwei Reihen, »USBürger« und »Bürger aus anderen Staaten«, aufteilen wird. Er hat eine Stadt an der Grenze gewählt, weil dort die Schlangen vor den Schaltern für Nicht-US-Bürger in der Regel lang sind. Das Flugzeug ist voll mit Kanadiern. Dr. Lecter glaubt, daß er in der Herde, solange die Herde ihn akzeptiert, durch die Kontrollen schlüpfen kann. Er hat mit diesen Touristen einige historische Sehenswürdigkeiten und Gemäldegalerien besucht. Er ist mit ihnen und ihren Ausdünstungen in einem Flugzeug geflogen, aber es gibt Grenzen: Er kann diesen Saufraß an Bord nicht essen. Müde und fußkrank, ihrer Kleidung und Begleitungen überdrüssig, wühlen die Touristen in ihrem abgepackten Abendessen und entfernen aus den Sandwiches die von der Kälte grau gewordenen Salatblätter. Dr. Lecter, der keine Aufmerksamkeit erregen will, wartet, bis sich seine Mitreisenden durch ihre karge Wegzehrung geknabbert haben, wartet, bis sie auf die Toilette gegangen und dann eingeschlafen sind. Weiter vorn wird ein abgestandener Film gespielt. Immer noch wartet er mit der Geduld
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