Hannibal
GEHN WEIL ER MIR HERGOT ISST Sie hatte immer noch irgendwo zu Hause den mit Wachsmalkreide hingekritzelten Text. In der Zelle stapelten sich Matratzen und ballenweise verschnürte Bettwäsche. Und endlich die Zelle von Dr. Lecter. Der stabile Tisch, an dem er zu lesen pflegte, war noch immer in der Mitte der Zelle an den Boden geschraubt. Die Regalbretter, auf denen seine Bücher gestanden hatten, waren verschwunden, aber die Winkel ragten noch aus der Wand. Starling hätte sich eigentlich den Aktenschränken zuwenden sollen, aber die Zelle zog sie wie magisch an. Hier hatte sie die beeindruckendste Begegnung ihres Lebens gehabt. Hier war sie aus ihren Selbstgewißheiten gerissen, geschockt und überrascht worden. Hier hatte sie Dinge über sich selbst gehört, so schrecklich wahr, daß ihr Herz wie eine große Glocke zu schlagen begonnen hatte. Sie wollte hinein. Sie wollte eintreten. Der Wunsch erinnerte sie an das manchmal schier übermächtige Bedürfnis, zu dem uns ein Balkon zum Sprung in die Tiefe animiert, erinnerte sie an die magische Anziehungskraft, die vom Schimmern der Gleise ausgeht, wenn wir einen Zug herannahen hören. Starling ließ den Strahl der Taschenlampe über die Wände huschen, schaute hinter die Aktenschränke und leuchtete in die benachbarten Zellen. Neugier trieb sie über die Schwelle. Ich stehe in der Mitte der Zelle, in der Dr. Hannibal Lecter acht Jahre verbracht hat. Sie nahm seinen Raum in Besitz, wo sie ihn hatte stehen sehen, und erwartete, daß ein Schauer sie überlief. Doch nichts dergleichen geschah. Sie plazierte ihre Taschenlampe und schließlich auch ihre Pistole auf seinem Tisch, darauf bedacht, daß die Lampe nicht über die Kante rollte, legte dann ihre Hände flach auf die Tischplatte: Sie fühlte nichts als Staub unter ihren Handflächen. Alles in allem war der Eindruck eher enttäuschend. Die Zelle war ihres Insassen beraubt, leer wie eine Schlangenhaut nach der Häutung. Starling begriff mit einemmal, daß Gefahr und Tod nicht zwangsläufig mit einem großen Auftritt daherkamen. Man konnte sie auch im Atemhauch eines geliebten Menschen spüren. Oder an einem sonnigen Nachmittag auf einem Fischmarkt im Rhythmus von »La Macarena« aus einer Jukebox. Zurück zum Geschäft. Etwa zweieinhalb Meter Wand waren mit vier kinnhohen
Aktenschränken zugestellt. Jeder von ihnen hatte fünf Schubladen, die durch ein Schloß an der obersten Schublade gesichert wurden. Keine von ihnen war verschlossen. In allen hingen dicht an dicht Krankenakten. Manche von ihnen sehr umfangreich. Alle in Schnellheftern. Alte, kartonierte, die über die Jahre brüchig geworden waren, und jüngere aus Manilapappe. Krankenakten, die Aufschluß über die Gesundheit von längst verstorbenen Männern gaben. Manche noch aus den dreißiger Jahren, als das Krankenhaus erbaut worden war. Die Akten waren grob alphabetisch geordnet. Oft waren ihnen zusätzliche Unterlagen angehängt worden. Starling ging sie, die schwere Taschenlampe auf ihrer Schulter haltend, schnell durch. Mit der freien Hand blätterte sie die Akten an, wobei sie sich wünschte, eine kleinere Taschenlampe zu haben, eine, die sie im Mund hätte halten können. Sobald sie die Ordnung einigermaßen durchschaut hatte, übersprang sie ganze Schubladen und arbeitete sich durch die Js, die wenigen Ks, um endlich zu den Ls zu kommen. Bingo: Lecter, Hannibal. Starling zog eine dicke Krankenakte heraus, befühlte sie sofort durch den Umschlag hindurch auf eine Röntgenaufnahme hin und legte sie auf den Aktenschrank. Als sie sie aufschlug, war es nur die
Krankengeschichte des verstorbenen I. J. Miggs, die ihr ins Auge sprang. Verdammt noch mal. Miggs suchte sie selbst aus dem Grab heraus noch wie eine Plage heim. Sie legte die Akte auf den Schrank vor sich und hastete zu der Schublade mit den Ms. Miggs eigene Akte fand sich sofort in der richtigen alphabetischen Reihenfolge. Sie war leer. Ein Ablagefehler? Hatte jemand zufälligerweise die Akte von Miggs in die leere Hülle Lecters gesteckt? Sie ging alle Ms durch und hielt Ausschau nach weiteren Akten ohne Hülle. Dann ging sie zu den Js zurück. Etwas begann sie mit einemmal zu stören. Der Gestank schien von Minute zu Minute durchdringender zu werden. Der Hausmeister hatte recht gehabt. Man bekam hier unten wirklich kaum Luft. Sie hatte etwa die Hälfte der Js durch, als ihr klar wurde, daß der Gestank ... unerträglich zu werden begann. Das Geräusch in der Wasserlache hinter ihr ließ sie
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