Hannibal
sollte. Bei Starlings früheren Besuchen, als sie Dr. Hannibal Lecter befragt hatte, war sie durch den Haupteingang gekommen. Sie mußte jetzt einen Moment lang innehalten, um sich zu orientieren. Sie stieg die Feuertreppe zum Verwaltungstrakt empor. Die Milchglasscheiben dämpften das schwindende Tageslicht und tauchten den Flur vor ihr in ein schummriges Halbdunkel. Starling knipste eine große Taschenlampe an und fand einen Lichtschalter für die
Deckenbeleuchtung. Sie drehte an ihm, und über ihr gingen drei einsame Glühbirnen in geborstenen Fassungen an. Die Enden herausgerissener Telefonkabel lagen auf dem Schreibtisch der Rezeption. Vandalen waren in das Gebäude eingedrungen und hatten sich mit Spraydosen verewigt. Ein zwei Meter großer Phallus mit der Botschaft HOL MIR DOCH EINEN RUNTER FARON MAMA Schmückte die Wand hinter der Rezeption. Die Tür zum Büro des Direktors stand offen. Starling hielt für einen Moment im Türrahmen inne. Hierher war sie mit ihrem ersten Auftrag vom FBI geschickt worden. Damals war sie noch in der Ausbildung gewesen und hatte noch einen unerschütterlichen Glauben gehabt. Damals hatte sie noch gedacht, wenn man seinen Job macht und wenn man ihn gut macht, dann würde man akzeptiert werden, unabhängig davon, welcher Rasse, welcher Glaubensrichtung, welcher Farbe, welcher Nationalität man angehörte oder ob man zu der etablierten Männerclique gehörte. Von alldem war nur eines übrig geblieben, die Gewißheit, daß sie ihren Job gut machte. Hier hatte ihr Direktor Chilton seine schmierige Hand entgegengestreckt. Hier hatte er seine Weisheiten über Hannibal Lecter zum besten gegeben, in dem Glauben, er sei klüger als Lecter, die Entscheidungen getroffen, die schließlich zu dessen mit so viel Blutvergießen verbundener Flucht geführt hatten. Chiltons Schreibtisch stand noch immer in seinem Büro. Aber es gab keinen Stuhl mehr. Alles, was nicht niet- und nagelfest gewesen war, war gestohlen worden. Die Schubladen waren bis auf eine zerbröselte Alka-Seltzer-Brausetablette allesamt leer. Zwei Aktenschränke waren im Büro verblieben, gesichert durch einfache Schlösser, die Starling, technisch versiert, wie sie war, in weniger als einer Minute offen hatte. Ein verschimmeltes Sandwich in einer Papiertüte und einige Formulare der Methadon-Klinik lagen in der untersten Schublade. Daneben fand sich Mundwasser, eine Flasche Haarwasser, ein Kamm und einige Kondome. Starling dachte an das kerkerähnliche Kellergeschoß, in dem Dr. Lecter acht Jahre zugebracht hatte. Sie wollte da nicht hinuntersteigen. Sie hätte ihr Handy benutzen und die örtliche Polizei um Verstärkung bitten können. Sie hätte die Außenstelle des FBI in Baltimore wegen Unterstützung anrufen können. Es war schon spät am Nachmittag. Es gab keine Möglichkeit, selbst jetzt nicht, die Rushhour in Baltimore zu vermeiden. Je länger sie wartete, desto schlimmer würde es werden. Sie stützte sich trotz des Staubes auf die Tischplatte von Chiltons Schreibtisch und versuchte zu einer Entscheidung zu kommen. Glaubte sie wirklich, daß es dort unten im Keller noch Akten gab, oder zog es sie lediglich an den Ort ihrer ersten Begegnung mit Hannibal Lecter zurück? Eines hatte ihre Berufserfahrung sie jedenfalls über sich selbst gelehrt: Sie war keine Gefahrensucherin, und sie wäre glücklich darüber, niemals mehr Furcht fühlen zu müssen. Aber dort unten könnten Akten lagern. Das herauszufinden würde sie keine fünf Minuten kosten. Sie konnte sich noch an den Klang der Hochsicherheitstüren hinter sich erinnern, als sie vor Jahren dort hinabgestiegen war. Für den Fall, daß jemand auf die Idee kommen sollte, sie hinter ihr zuzuwerfen, rief sie die FBI-Außenstelle Baltimore an und informierte sie, wo sie sich gerade aufhielt. Darüber hinaus verabredete sie mit den Kollegen, in einer Stunde wieder anzurufen, um durchzugeben, daß sie wieder draußen sei. Die Leuchtstoffröhren im Treppenhaus, durch das Chilton sie vor Jahren in das Kellergeschoß
hinuntergeleitet hatte, funktionierten noch. Hier hatte er ihr die Sicherheitsvorkehrungen erläutert, die im Umgang mit Hannibal Lecter getroffen worden waren, und hier, an dieser Stelle, war er stehengeblieben und hatte das Foto von der Schwester aus seiner Brieftasche gezogen, deren Zunge Dr. Lecter gegessen hatte, als sie ihn bei einer Untersuchung hatte beaufsichtigen sollen. Wenn die Wachen Dr. Lecter wirklich die Schulter ausgekugelt hatten, dann mußte es
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