Hannibal
hierlasse, werden Sie sich dann etwas zu essen kaufen?« »Nein, ich kaufe uns Schnaps. Fressen findet man. Schnaps nicht. Tu mir den Gefallen und ramm dir auf dem Weg nach draußen nicht die Türklinke in den Arsch.« »Ich lege das Geld auf den Schreibtisch«, sagte Starling. Ihr war nach Wegrennen zumute. Sie erinnerte sich, wie sie Dr. Lecter verlassen hatte, erinnerte sich daran, wie sie nur mühsam die Fassung hatte wahren können, als sie auf das zuschritt, was ihr damals wie eine Insel der Seligen vorgekommen war, den Aufenthaltsraum von Barney. Im Licht des Treppenhauses nahm Starling eine Zwanzig-Dollar-Note aus ihrer Brieftasche. Sie legte den Schein auf den zerkratzten und verlassenen Schreibtisch von Barney und beschwerte ihn mit einer leeren Weinflasche. Dann packte sie eine Plastiktüte aus und tat die Hülle von Lecters Akte mit Miggs Krankenunterlagen und die leere Krankenakte von Miggs hinein. »Auf Wiedersehen, Sammie«, rief sie dem Mann zu, der die Welt durchwandert hatte, nur um wieder in die Hölle zurückzukehren, die ihm vertraut war. Sie wollte ihm noch sagen, sie hoffe für ihn, daß Jesus bald kommen werde, fand es aber dann doch zu dämlich, so etwas zu äußern. Starling stieg wieder ans Licht hinauf, um ihre eigene Wanderschaft In der Welt fortzusetzen.
KAPITEL 12
Wenn es Sammelplätze auf dem Weg zur Hölle gibt, dann müssen sie wohl so aussehen wie der Eingang der Notaufnahme des städtischen Maryland Misericordia Hospital. Über dem ersterbenden Klang der Sirenen und dem anschwellenden Wehklagen der Sterbenden, dem Klappern von Krankenhausbetten, den Schreien und Rufen und den Säulen menschlicher Abluft über den Entlüftungsschächten ragt in großen Neonbuchstaben das Zeichen NOTAUFNAHME. Nachts in tiefrotes Licht getaucht, drängt sich dem Betrachter unwillkürlich das Bild vom brennenden Dornbusch Moses’ auf. Bei Tag erscheint vor ihm jeder Himmel irgendwie grau. Durch die Dampfschwaden hindurch trat Barney ins Freie. Ein Frösteln durchlief seine mächtigen Schultern. Er schlug den Mantelkragen seiner Jacke hoch. Den kahlgeschorenen Schädel nach vorn gebeugt, ging er mit ausgreifenden Schritten über den ausgetretenen Bürgersteig ostwärts dem Morgen entgegen. Er war fünfundzwanzig Minuten über die Zeit, zu der er normalerweise die Notaufnahme verließ. Die Polizei hatte einen mit Drogen vollgepumpten Zuhälter mit einer Schußverletzung eingeliefert, der sich einen Spaß daraus machte, Frauen zu verprügeln. Die Oberschwester hatte ihn gebeten zu bleiben. Sie baten ihn immer zu bleiben, wenn ein gewalttätiger Patient hereinkam. Clarice Starling hatte die Kapuze ihrer Jacke tief ins Gesicht gezogen und schaute Barney nach. Sie gab ihm einen halben Block Vorsprung. Dann hängte sie ihre Einkaufstasche um und folgte ihm auf der anderen Straßenseite. Als er am Parkplatz und dann auch an der Bushaltestelle vorüberging, war sie erleichtert. Es war einfacher für sie, Barney zu Fuß zu folgen. Sie wußte nicht genau, wo er wohnte. Aber eben das mußte sie wissen, bevor er sie erkannte. Die Gegend hinter dem Krankenhaus war ruhig. Ein AngestelltenViertel, in dem Weiße und Schwarze wohnten. Die Leute sicherten zwar ihre Wagen mit einem Lenkradschloß, mußten aber nicht die Autobatterie nachts mit ins Haus nehmen. Und die Kinder konnten auf der Straße spielen. Nach drei Blocks blieb Barney an einem Zebrastreifen stehen, um einen Lieferwagen vorbeifahren zu lassen. Dann bog er in eine Straße. mit Einfamilienhäusern ein. Einige von ihnen hatten eine Marmortreppe und gepflegte Vorgärten. Die wenigen leeren Schaufenster, die es gab, waren intakt und wirkten frisch geputzt. Die Geschäfte machten nach und nach auf. Ein paar Leute waren schon auf den Beinen. Lastwagen, die auf beiden Seiten der Straße über Nacht geparkt worden waren, versperrten Starling für einen Moment die Sicht. Sie hatte zu Barney aufgeschlossen, da sie zu spät bemerkte, daß er stehengeblieben war. Sie stand ihm auf der anderen Straßenseite direkt gegenüber, als er wieder ins Blickfeld kam. Vielleicht hatte er sie auch gesehen. Er stand da, die Hände in den Jackentaschen, den Kopf nach vorn gebeugt, und blickte zur Straßenmitte, wo sich etwas zu bewegen schien. Eine tote Taube lag auf der Straße. Ein Flügel hob und senkte sich im Fahrtwind der vorbeifahrenden Autos. Der Gefährte den toten Vogels hüpfte um den Körper herum und beäugte ihn immer wieder. Mit jedem Schritt auf dem Asphalt
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