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Hannibal

Hannibal

Titel: Hannibal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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dem
Bombenanschlag ebendiese graugesichtigen Direktoren der Uffizien und Mitglieder der rivalisierenden Kommission der Schönen Künste streng über Fragen der Sicherheit belehrt hatte, mußte nun unter weniger spektakulären Umständen vor ihnen erscheinen, um sie über das Liebesleben eines Kurators zu befragen. Eine Aufgabe, nach der er sich nicht gerade sehnte. Die Zusammenkünfte der beiden Komitees gestalteten sich immer sehr schwierig und waren von Zank und Hader begleitet. Jahrelang konnten sich beide Seiten nicht einmal auf einen gemeinsamen Tagungsort einigen und lehnten es ab, das Büro der Gegenseite zu betreten. Statt dessen traf man sich, im Glauben, dies sei der eigenen Ehre und Würde angemessen, im prächtigen Liliensaal des Palazzo Vecchio. Einmal dort untergekommen, weigerten sie sich standhaft, ihre Zusammenkünfte an einen anderen Ort zu verlegen, obwohl der Palazzo Vecchio gerade wieder, wie schon unzählige Male zuvor, restauriert wurde. Überall standen Baugerüste. Werkzeug lag auf dem Boden herum. Die Wände waren mit Planen bedeckt. Professor Ricci, ein alter Schulfreund von Rinaldo Pazzi, hielt sich in der Vorhalle des Salons auf. Die mit Gipsstaub geschwängerte Luft hatte ihn, heftig niesend, vor die Tür getrieben. Als er sich halbwegs von der Attacke erholt hatte, rollte er die tränenden Augen. «La solita arringa«, sagte Ricci. »Sie streiten sich, wie gewöhnlich. Du kommst wegen des vermißten Kurators vom Capponi? Es tobt gerade eine Schlacht um seine Nachfolge. Sogliato will, daß sein Neffe die Stelle bekommt. Die Gelehrten sind von der Vertretung beeindruckt, die man vor Monaten ernannt hat. Die wollen Dr. Fell behalten.« Pazzi verabschiedete sich von seinem Freund, der in seinem Jackett verzweifelt nach einem
Papiertaschentuch suchte, und betrat den geschichtsträchtigen Raum mit den goldenen Lilien an der Decke. An zwei Wänden hingen Planen, die das Stimmengewirr ein wenig dämpften. Sogliato, der Begünstigte, beherrschte lautstark die Szene. »Die Capponi-Briefwechsel gehen zurück bis ins dreizehnte Jahrhundert. Dr. Fell könnte ohne weiteres einen von Dante Alighieri höchstselbst geschriebenen Brief in seiner Hand, in seiner nichtitalienischen Hand, halten. Würde er ihn überhaupt erkennen? Ich denke, nicht. Ihr habt ihn in mittelalterlichem Italienisch geprüft, und ich bestreite nicht, daß seine Sprachkenntnisse höchst bewundernswert sind. Für einen straniero. Aber ist er auch vertraut mit den Florentiner Persönlichkeiten der Frührenaissance? Ich denke, nicht. Was würde passieren, wenn er auf eine Notiz in der Capponi-Bibliothek stieße von - von Guido de Cavalcanti zum Beispiel? Würde er sie überhaupt erkennen? Ich denke, nicht. Besäßen Sie vielleicht die Güte, mir darauf zu antworten, Dr. Fell?« Rinaldo Pazzi musterte die Anwesenden und bemerkte niemanden, den er als Dr. Fell identifizieren konnte. Immerhin hatte er eine Fotografie des Mannes vor nicht einmal einer Stunde in Augenschein genommen. Er sah Dr. Fell nicht, da dieser nicht bei den anderen saß. Pazzi hörte zuerst seine Stimme. Dann bemerkte er ihn. Dr. Fell stand bewegungslos neben der großen
Bronzeskulptur »Judith und Holofernes« und wandte dem Sprecher und der Menge den Rücken zu. Er sprach, ohne sich umzudrehen, und es war nur schwer auszumachen, von wem die Stimme ausging
- Judith, die auf ewig ihr Schwert erhoben hielt, um dem betrunkenen König den tödlichen Streich zu versetzen, oder Holofernes, bei den Haaren gehalten, oder eben Dr. Fell, jener schlanke, reglose Mann, der ruhig neben Donatellos Bronzefiguren stand. Seine Stimme durchschnitt das Stimmengewirr wie ein Laserstrahl den Rauch, und schlagartig trat unter den sich zankenden Männern Stille ein. »Cavalcanti antwortete öffentlich auf Dantes erstes Sonett in La Vita Nuova, worin Dante seinen merkwürdigen Traum von Beatrice Portinari beschreibt«, sagte Dr. Fell. »Vielleicht hat sich Cavalcanti auch privat geäußert. Falls er an einen Capponi geschrieben hat, käme dafür eigentlich nur Andrea in Frage. Er war der literarisch interessierteste der Brüder.« Nach einer Kunstpause, die alle Anwesenden leicht in Unruhe versetzte, was ihn aber nicht zu stören schien, wandte sich Dr. Fell der Gruppe zu. »Kennen Sie Dantes erstes Sonett, Professor Sogliato? Kennen Sie es? Es faszinierte Cavalcanti, und es ist wert, daß man einen Augenblick bei ihm verweilt. Es heißt dort unter anderem: >Es mochte um die vierte Stunde

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