Hannibal
Mund, der bleiche Zephir aus dem Wald greift nach ihr. Da war es: das Bild des toten Paares auf der Rückbank des Pick-up, mit Blumen bekränzt, Blumen im Mund des Mädchens. Treffer. Treffer. Hier, an dem Ort, wo sein Vorfahre, nach Luft ringend, gegen die Wand geschlagen war, kam ihm die Idee, das alles lösende Bild, nach dem er solange gesucht hatte. Ein Gemälde, das fünfhundert Jahre zuvor von Sandro Botticelli geschaffen worden war - demselben Künstler, der für vierzig Florint das Bild des aufgehängten Francesco de’ Pazzi auf die Wand des Bargello Gefängnisses gemalt hatte, einschließlich des Stricks. Wie hätte Pazzi einer Inspiration dieses herrlichen Ursprungs widerstehen können? Er mußte sich setzen. Auf allen Bänken saßen Leute. Er war gezwungen, seine Polizeimarke zu zücken, um sich einen Platz zu organisieren. Er scheuchte einen alten Mann auf, dessen Krücken er erst bemerkte, als der Veteran auf einem Bein vor ihm stand und wie ein Rohrspatz schimpfte. Pazzi war aus zwei Gründen aus dem Häuschen. Das Bild zu finden, das Il Mostro als Vorlage diente, war ein Triumph, aber was noch viel wichtiger war, Pazzi hatte eine Kopie von »Primavera« bei einer seiner Touren zu den
verdächtigen Kriminellen gesehen. Er wußte etwas Besseres zu tun, als sich das Hirn zu zermartern; er lehnte sich zurück, ließ los und lud es regelrecht ein. Er kehrte in die Uffizien zurück und stellte sich vor das Original, wenn auch nur ganz kurz. Er ging zum Marktplatz und berührte die Schnauze des bronzenen Bären »Il Porcellino«. Dann fuhr er hinaus zum Ippocampo und beobachtete, den Geruch von heißem Öl in der Nase, an die Kühlerhaube seines staubbedeckten Wagens gelehnt, die Kinder beim Fußballspielen ... Zuerst sah er einen Treppenaufgang vor sich, dann den Treppenabsatz darüber. Der obere Teil des »Primavera«-Posters tauchte erst auf, als er die Stufen hinaufging; dann trat er einen Schritt zurück und sah einen Moment lang den Türrahmen der Eingangstür, aber nichts von einer Straße und keine Gesichter. Erfahren im Umgang mit Verhören, legte er sich selbst Fragen vor, indem er die anderen Sinne aufrief: Als du das Poster sahst, was hörtest du da? ... Töpfe, die in einer Küche im Erdgeschoß klapperten. Als Au die Treppe nach oben gingst und vor dem Poster innehieltest, was hörtest du? Den Fernseher. Einen Fernsehapparat in einem Wohnzimmer. Robert Stack in der Rolle des Eliot Ness in Gli Intoccabili. Hast du etwas gerochen? Ja, jemand hat gekocht. Ich habe den Geruch von Essen wahrgenommen. Hast du irgend etwas anderes gerochen? Ich sah das Poster - NEIN, nicht was du gesehen hast. Hast du irgend etwas anderes gerochen? Ich hatte immer noch den Geruch des Alfas in der Nase. Es war warm im Wagen, ich roch es noch. Heißes Öl, heiß von ... die Raccordo. Die schnelle Fahrt über die Raccordo Autostrada, wohin ging nie? San Casciano. Ich habe auch einen Hund bellen hören. In San Casciano, ein Einbrecher und Vergewaltiger namens Girolamo Irgendwas. In diesem Moment, wenn eine Verbindung einrastet, in diesem synaptischen Krampf, in dem sich alles vollendet, wo einem ein Gedanke durch und durch geht, erleben wir Befriedigung in ihrer wohl höchsten Form. Für Rinaldo Pazzi war es der schönste Moment in seinem Leben. Keine anderthalb Stunden später hatte Pazzi Girolamo Tocca verhaften lassen. Toccas Frau warf dem kleinen Konvoi, der ihr den Ehemann nahm, Steine hinterher.
KAPITEL 18
Tocca war der Traum von einem Verdächtigen. Als junger Mann war er wegen Totschlags zu neun Jahren Gefängnis verurteilt worden. Er hatte einen Mann mit seiner Verlobten in flagranti an einem lauschigen Plätzchen ertappt und erschlagen. Er war zudem wegen sexueller Übergriffe gegenüber seinen Töchtern und Kindesmißbrauch rechtskräftig verurteilt worden. Außerdem hatte er wegen Vergewaltigung eingesessen. Die Questura nahm auf der Suche nach Beweisen Toccas Haus buchstäblich auseinander. Am Ende war es Pazzi selbst, der, Toccas Grund und Boden durchsuchend, auf eine Patronenschachtel stieß, eines der wenigen echten Beweisstücke, die die Staatsanwaltschaft vorlegen konnte. Der Prozeß war eine Sensation. Er fand in einem
Hochsicherheitstrakt, schräg gegenüber den Büros von La Nazione gelegen, der Bunker genannt, statt, wo in den siebziger Jahren die Terroristenprozesse durchgeführt worden waren. Die
Geschworenen, fünf Männer und fünf Frauen, verurteilten Tocca praktisch ohne jeden Beweis, einzig
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