Hannibal
keinerlei Ähnlichkeit mit dem Mann auf, den Pazzi verhaftet hatte. La Nazione kommentierte trocken, Pazzi habe »Tocca offenkundig eine Fahrkarte ins Gefängnis ausgestellt«. Das letztemal, als Pazzi das blaue Il-Mostro -Plakat eigenhändig aufgehängt hatte, war in Amerika gewesen, eine stolze Trophäe an der Wand der Abteilung für Verhaltensforschung. Die FBI-Agenten hatten ihn sogar gebeten, es für sie zu signieren. Sie wußten alles über ihn, bewunderten seine Arbeit und luden ihn ein. Er und seine Frau waren an der Küste von Maryland zu Gast gewesen. Als er auf dem dunklen Wall stand und über die Altstadt von Florenz schaute, roch er die Salzluft der Chesapeake Bay, sah seine Frau mit ihren neuen weißen Sneakers dort am Strand entlangspazieren. Es gab in der Abteilung für Verhaltensforschung sogar eine Ansicht von Florenz, die man ihm als Kuriosität vorgeführt hatte. Es war exakt der Blick auf die Altstadt, der sich ihm nun vom Porte di Belvedere aus darbot. Es kam eben nichts dieser Aussicht auf Florenz gleich. Doch das Bild war nicht farbig gewesen, sondern eine Kohle-Bleistift-Zeichnung, die den Hintergrund einer Fotografie gebildet hatte. Einer Fotografie des amerikanischen Serienkillers Dr. Hannibal Lecter.
Lecter hatte Florenz aus dem Gedächtnis zu Papier gebracht. Die Zeichnung hing in seiner Zelle, einem so grausigen Ort. Wann fiel bei Pazzi wohl der Groschen? Zwei Bilder, das leibhaftige Florenz, wie es vor ihm lag, und die Zeichnung, an die er sich erinnerte. Ein Il-Mostro -Plakat, das er ein paar Minuten zuvor aufgehängt hatte. Mason Vergers Hannibal-Lecter-Poster an der Wand seines Büros mit der riesigen Belohnung und den Anweisungen: DR. LECTER WIRD SEINE LINKE HAND VERBERGEN WOLLEN UND ALLES ERDENKLICHE UNTERNEHMEN, UM DIESE
OPERIEREN ZU LASSEN, DA DIE IHM ANGEBORENE ART VON POLYDAKTYLIE, DAS VORHANDENSEIN EINES VOLLSTÄNDIG AUSGEBILDETEN ZUSÄTZLICHEN
FINGERS, UNGEWÖHNLICH SELTEN AUFTRITT UND EINE SOFORTIGE IDENTIFIZIERUNG GESTATTET. Dr. Fell mit der vernarbten Hand, den Brillenbügel gegen seine Lippen tippend. Eine detailgenaue Zeichnung dieser Stadtansicht an der Wand von Hannibal Lecters Zelle. Kam Pazzi die Idee, während er auf die Altstadt von Florenz hinunterblickte, oder senkte sie sich aus dem dunklen Nachthimmel auf ihn herab? Und warum kündigte sie sich durch den Duft einer salzigen Brise der Chesapeake Bay an? Ungewöhnlich für einen visuell veranlagten Menschen, stellte sich die Verbindung über einen Klang her, das Geräusch eines Tropfens, der in etwas Dickflüssiges fällt. Hannibal Lecter war nach Florenz geflohen, Plop. Hannibal Lecter war Dr. Fell. Rinaldo Pazzis innere Stimme warnte ihn, daß er, eingesperrt in den Käfig seiner mißlichen Lage, nun verrückt geworden war; daß sein Verstand die Zähne in die Gitterstäbe geschlagen hatte, wie das Skelett in dem Hungerkäfig. Ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen war, fand er sich vor dem Renaissance-Tor wieder, das auf die steil abfallende Costa di San Giorgio führte, eine kleine Straße, kaum länger als einen Kilometer, die sich ins Herz der Altstadt schlängelte. Seine Schritte schienen ihn willenlos über das abschüssige
Kopfsteinpflaster zu tragen. Er ging schneller, als er eigentlich wollte, hielt nach dem Mann Ausschau, der sich Dr. Fell nannte, denn das hier war die Straße, die er nehmen mußte, wenn er nach Hause wollte. Auf halbem Weg bog Pazzi in die Costa Scarpuccia ein und folgte ihr, bis er nahe dem Fluß auf die Via de’ Bardi stieß, unmittelbar in der Nähe des Palazzo Capponi, dem Heim von Dr. Fell. Pazzi, schwer atmend von dem Abstieg, mied die
Straßenbeleuchtung und zog sich in einen dunklen Hauseingang gegenüber dem Palazzo zurück. Sollte jemand vorbeikommen, würde er sich einfach umdrehen und so tun, als klingelte er. Der Palazzo lag in tiefes Dunkel gehüllt. Pazzi konnte oberhalb der prächtigen Flügeltüren das rote Licht einer Überwachungskamera erkennen. Er war sich unsicher, ob sie immer arbeitete oder nur dann, wenn jemand die Türglocke anschlug. Er fühlte sich durch den Eingang gut geschützt. Pazzi glaubte nicht, daß die Kamera die gegenüberliegende Fassade im Blick hatte. Er wartete eine halbe Stunde und lauschte seinem Atem. Aber der Doktor kam nicht. Vielleicht war er ja bereits drinnen und hatte kein Licht angeschaltet. Die Straße lag wie ausgestorben da. Pazzi überquerte sie hastig und blieb, an die Hauswand gepreßt, stehen. Ganz, ganz schwach vernahm er
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