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Hannibal

Hannibal

Titel: Hannibal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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entziehen sich herkömmlichen Bewertungskriterien. Innerhalb der Analytikerzunft herrscht nicht einmal darüber Übereinstimmung, ob Dr. Lecter überhaupt als Mensch zu bezeichnen ist. Seit langem gilt er unter seinen Kollegen, von denen viele seine spitze Feder in den Fachzeitschriften fürchten, als das Andere. Der Bequemlichkeit halber bezeichnen sie ihn als »Ungeheuer«. Das Ungeheuer sitzt im Dunkel der Bibliothek. Sein Verstand malt Farben auf die schwarze Leinwand. Ein Hauch von Mittelalter durchweht seine
Gedankenwelt. Er denkt über den Polizeibeamten nach. Das Klicken eines Lichtschalters, und eine niedrige Tischlampe geht an. Nun können wir Dr. Lecter an einem wuchtigen Tisch aus dem Nechzehnten Jahrhundert in der Capponi-Bibliothek sitzen sehen. Hinter ihm eine Wand mit Schubfächern, unzähligen Handschriften und prachtvollen, in Leder gebundenen Hauptbüchern. Manche gehen bis ins zwölfte Jahrhundert zurück. Vor ihm stapelt sich der Briefwechsel mit einem Minister der Republik Venedig aus dem vierzehnten Jahrhundert. Als Briefbeschwerer dient ihm ein kleiner Guß, den Michelangelo als Studie für seinen gehörnten Moses angefertigt hat. Neben dem Tintenfaß steht ein Laptop, der ihm die Möglichkeit zur Online-Recherche über das Netz der Universität Mailand gibt. Inmitten der graubraunen und gelben Stapel von Pergamenten und Velin leuchtet das kräftige Rot und Blau einer Ausgabe des National Tattler. Daneben liegt die Florenz-Ausgabe von La Nazione. Dr. Lecter greift nach der italienischen Zeitung und liest die vorerst letzte Attacke auf Rinaldo Pazzi. Ein Dementi des FBI im Fall Il Mostro bietet den Anlaß dazu. »Unser Täterprofil wies keinerlei Ähnlichkeit mit Tocca auf«, verlautbarte ein Sprecher des FBI. La Nazione berichtete über Pazzis beruflichen Werdegang und dessen Aufenthalt in Amerika, seinen Besuch in Quantico, und kommentierte, daß er es eigentlich hätte besser wissen müssen. Der Fall Il Mostro interessierte Dr. Lecter nicht, aber Pazzis Hintergrund nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Was für ein Malheur, daß er ausgerechnet einem Polizeibeamten begegnen mußte, der in Quantico war, wo Lecter ein Fall fürs Lehrbuch geworden war. Als Dr. Lecter im Palazzo Vecchio Rinaldo Pazzi ins Gesicht blickte und ihm so nahe kam, daß er ihn riechen konnte, wußte er mit Bestimmtheit, daß Pazzi keinen Verdacht gegen ihn hegte, obwohl er sich nach der Narbe an seiner Hand erkundigt hatte. Pazzi zeigte nicht einmal wegen des verschwundenen Kurators ernsthaftes Interesse an ihm. Der Polizeibeamte hatte ihn im »Theater der Grausamkeit« gesehen. Es wäre sicher besser gewesen, ihn auf einer Orchideenschau zu treffen. Sollte Pazzi nicht in kühleren Gefilden dem verschwundenen Kurator des Palazzo Capponi Gesellschaft leisten? Was, wenn man Pazzis Leiche fände und es nach einem Selbstmord aussähe? La Nazione wäre bestimmt erfreut darüber, ihn in den Tod getrieben zu haben. Nein, nicht jetzt, dachte das Ungeheuer und wandte sich den berühmten Handschriftenrollen und Pergamenten zu. Dr. Lecters Wohlbefinden wurde durch keine Sorgen getrübt. Er erfreute sich an dem Stil Neri Capponis, Bankier und Abgesandter im Venedig des fünfzehnten Jahrhunderts, und las dessen Briefe, manchmal sogar laut, einfach zum puren Vergnügen bis tief in die Nacht hinein.

KAPITEL 22
    Noch vor Tagesanbruch hielt Pazzi die Fotografien in Händen, die für die Arbeitserlaubnis aufgenommen und zusammen mit den Negativen von Dr. Fells Permesso di Soggiorno den Akten der Carabinieri beigefügt worden waren. Pazzi hatte außerdem die ausgezeichneten Fotos aus der Verbrecherkartei, die auf Mason Vergers Plakat abgebildet waren. Die Gesichter ähnelten sich ihrer Form nach. Sollte Dr. Fell aber tatsächlich Dr. Hannibal Lecter sein, so war einiges an Nase und Wangen getan worden, womöglich mit Collagen-Injektionen. Die Ohren sahen vielversprechend aus. Wie Alphonse Bertillon hundert Jahre vor ihm studierte Pazzi die Ohren mit einem Vergrößerungsglas. Sie schienen dieselben zu sein. Auf dem hoffnungslos veralteten Computer der Questura wählte er die Violent-Crime-Apprehension-Datenbank des FBI an und gab seinen Interpol-Zugangscode ein. Dann rief er die umfangreiche Lecter-Akte auf. Er verfluchte sein vorsintflutliches Modem und Versuchte, den verschwommenen Text auf dem Bildschirm zu entziffern, bis die Buchstaben vor seinen Augen tanzten. Das meiste über den Fall wußte er schon. Zwei Dinge verschlugen ihm

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