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Hannibal

Hannibal

Titel: Hannibal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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zurückgeschlagene Abdeckung des Klaviers ist mit einer herrlichen Bankettszene verziert, und die kleinen Figuren scheinen im Kerzenlicht über den Klaviersaiten zu tanzen. Er spielt mit geschlossenen Augen. Er benötigt keine Notenblätter. Vor ihm, auf dem leierförmig geschnitzten Notenständer, liegt eine Ausgabe des amerikanischen National Tattler. Sie ist so gefaltet, daß nur das Gesicht auf der Titelseite, das Gesicht von Clarice Starling, zu erkennen ist. Unser Musiker lächelt, beendet das Musikstück und wiederholt zum eigenen Vergnügen noch einmal die Sarabande. Als die Filzhämmerchen die letzte Saite angeschlagen haben und der Ton in dem großen Raum verklungen ist, öffnet er die Augen. Seine Pupillen scheinen im Licht der Kerzen einen Moment lang wie rote Punkte zu glühen. Er neigt den Kopf leicht zur Seite und blickt auf die Zeitung vor sich. Er erhebt sich lautlos und nimmt das amerikanische Boulevardblatt in die kleine, kostbar ausgestattete Kapelle mit, die lange vor der Entdeckung Amerikas erbaut worden ist. Als er das Blatt im Licht der Kerzen aufschlägt, scheint es, als läsen die Heiligenbilder über dem Altar ihm über die Schulter mit, als ob sie irgendwo in einer Schlange anständen. Die Überschrift kommt als 72-Punkt Gothic Railroad daher. Sie tönt: »TODESENGEL CLARICE STARLING, DIE KILLERMASCHINE DES FBI«. Die Gesichter über dem Altar, in Schönheit und Schmerz gebannt, verschwinden, als er die Kerzen ausbläst. Er braucht kein Licht, um die, große Halle zu durchqueren. Ein leiser Luftzug streift uns, als Dr. Hannibal Lecter an uns vorübergeht. Die riesige Tür knarrt und schließt mit einem dumpfen Ton, der einen Moment lang den Boden unter unseren Füßen erzittern läßt. Stille. Schritte, die einen anderen Raum betreten. Im Widerhall dieser Räume scheinen die Wände näher heranzurücken. Die hohe Decke wirft die Geräusche nur verzögert zurück. In der Luft liegt noch immer der Geruch von Velin, Pergament und gelöschtem Docht. Papier raschelt in der Dunkelheit. Ein Möbelstück wird verrückt und ächzt unter der Last eines Menschen, der sich auf ihm niederläßt. Dr. Lecter sitzt in einem großen Lehnstuhl in der berühmten Capponi-Bibliothek. Seine Augen reflektieren das Licht rötlich, aber sie glühen nicht rot im Dunkeln, wie das einige seiner Wärter geschworen haben. Die Dunkelheit hüllt ihn ein. Er überlegt ... Es ist wahr, Dr. Lecter hat ein wenig nachgeholfen, die Stelle im Palazzo Capponi zu bekommen, indem er seinen Vorgänger beseitigte - ein Kinderspiel, er hatte keine große Mühe mit dem alten Mann gehabt, und die Ausgaben für zwei Sack Zement waren kaum der Rede wert -, aber als der Weg erst einmal frei war, verdiente er sich den Job auf redliche Weise, denn er hatte vor dem Komitee der Schönen Künste seine außergewöhnlichen sprachlichen Fähigkeiten bewiesen, als er mittelalterliches Italienisch und Latein vom Blatt übersetzte. Und das Originalmanuskript war in einer extrem dichten Frakturschrift gesetzt. Hier hat er einen Frieden gefunden, den er sich bewahren will. Er hat während seines Aufenthalts in Florenz kaum jemanden getötet, sieht man einmal von seinem Vorgänger ab. Seine Ernennung zum Übersetzer und Kurator der Capponi-Bibliothek ist aus mehreren Gründen wertvoll für ihn: Weite und Höhe der Palasträume stellen für Dr. Lecter nach den Jahren der Enge in der Haft einen Wert an sich dar; und was noch wichtiger ist, er reagiert körperlich auf den Palazzo, ist dieser doch das einzige Privathaus, das er kennt, das in seiner Dimension und in den Details dem Gedächtnispalast ähnelt, den er sich seit seiner Jugend bewahrt und erweitert. In der Bibliothek, dieser einzigartigen Sammlung von Handschriften und Briefwechseln, die bis ins frühe dreizehnte Jahrhundert zurückreicht, kann er der Neugier auf seine eigene Geschichte freien Lauf lassen. Dr. Lecter glaubt, daß er, den wenigen überlieferten Bruchsrücken seiner Familiengeschichte zufolge, von einem gewissen Giuliano Bevisangue, einer furchteinflößenden Figur aus der Toskana des zwölften Jahrhunderts, und von den Familien Machiavelli und Visconti abstammt. Das hier ist also der ideale Ort für Nachforschungen. Obwohl er eine gewisse, eher abstrakt zu nennende Neugier an den Tag legt, ist das Ganze für ihn nicht ichbezogen. Dr. Lecter bedarf keiner Selbstbestätigung der konventionellen Art. Sein Ego, ebenso wie sein Intelligenzquotient und der Grad seines Denkvermögens

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