Hans Heinz Ewers
Dämmerung sank, kam der Geliebte. Ihre Liebe zog ihn hervor aus dem Totenreiche, machte ihn lebend für eine kurze Stunde. Wenige nur wußten darum: ihre Eltern, ihr Vetter und wenige Freunde.
Sie war völlig gesund und normal, seine Base. Nicht ein kleinster Gedanke flog jemals hinaus über Alltägliches. Nur diese eine Stunde im Monate –
Später, zehn Jahre später, lernte sie einen andern kennen, heiratete ihn – seither kam sie nicht mehr in das Zimmer. Sie bekam drei Kinder, wurde glücklich genug.
Aber sie vergaß es nicht. Wenn sie, in langen Pausen, einmal den Vetter wiedersah, sprach sie davon mit ihm. Nur mit ihm.
Dann sprach er ihr, leise, die Zeilen Novalis’:
„O sauge, Geliebter, gewaltig mich an, daß ich entschlummern und lieben kann.
Ich fühle des Todes verjüngende Flut, zu Balsam und Äther verwandelt mein Blut.
Ich lebe die Tage voll Glauben und Mut und sterbe die Nächte in heiliger Glut.“
Sie antwortete nicht. Schweigend reichte sie ihm die Hand.
Jan Olieslagers dachte oft daran in diesen Nächten. Das alles baute sich auf einem starken Empfinden, das kein anderes Denken und Fühlen neben sich aufkommen ließ. Unglückliche – ach, waren es nicht vielmehr sehr Glückliche? – waren besessen von diesem einen wilden Feuer, leugneten den Tod, schmiedeten einen stählernen Willen, gebaren aus sich heraus von neuem das verlorene Tote, fanden, wie Orpheus, den Schlüssel zum Tore der Schatten, Eurydike zu suchen.
Der große Wille des Lebens griff hinein in das Reich der Toten. Das war das Geheimnis.
Hier aber war es ein sehr anderes.
Stephe war Herrscher in den Gärten des Todes. Nun aber wuchs er, wuchs – und seine Macht ward so groß, daß sie weit hinübergriff in alles Leben.
Das kam, als man die Brüder Stolinsky beerdigte, zwei polnische Erdarbeiter, die bei einer Sprengung umgekommen waren. Da fiel Stephes Blick auf ein sehr junges Mädchen, das dicht am Grabe stand. Er sah sie lange an, dann lächelte er.
Wußte: ,Sie wird zu mir kommen. Sie gehört mir.’
Von nun an betrachtete er genau die Reihen der Leidtragenden, denen er sonst nie den kleinsten Blick geschenkt hatte. Mochte sich eine verstecken hinter schwarzen Jacken und Röcken – Stephe fand sie doch.
Und er sah die Frauen und Mädchen, die zum Friedhofe kamen, die Gräber zu schmücken. Schaute jede an, maß sie lange. Manchmal lächelte er; das war, wenn er fühlte: ,Die wird zu mir kommen.’ Auch wenn er zu seltenen Besuchen in die Stadt ging, blickte er nach den Frauen. Die Straßen hinauf und hinunter, hinein in die Türen und Fenster. „Die da“, flüsterte er, „die da!“
Sein großer Tag aber kam vor Ostern; das war der Totentag. Alle Gräber wurden geschmückt, und an allen Gräbern standen weinende Frauen. Da ging Stephe durch die Wege, Stunde um Stunde, blieb stehn eine kleine Weile, blickte sich um, lächelte.
Ein großer Liebesmarkt – viel gute Ware. Aber nur einer wußte darum – er, Stephe.
Wirklich nur er?
Es war, als ob auch die andern es wußten – die Frauen und Mädchen.
Nicht wußten – nein. Aber fühlten, ahnten – irgendein Schreckliches. Und das hatte mit dem Blick des Totengräbers zu tun, und mit seinem Lächeln.
In der Folge sah Jan Olieslagers viele Male diesen Blick und viele Male dies Lächeln. Er beobachtete es genau, viel genauer als jeder andere. Obschon er aber der einzige war, der seine Bedeutung kannte, vermochte er doch nicht ein einziges Mal dahinterzukommen, wieso es möglich war, daß jemand auch nur den kleinsten Eindruck davon haben könnte. Denn sein Blick hatte nichts Grauenvolles, nichts Erschreckendes, sein Lächeln nichts Herzbeklemmendes oder Teuflisches. Es war ein freundlicher, stiller Blick und ein gütiges Lächeln.
Dennoch – mit einem besonderen Sinn begriffen die Frauen und Mädchen. Ja, halbe Kinder begriffen, kleine Dinger mit langflatternden Haaren und kurzen Röckchen.
In der Kapelle, während des Gebetes fiel eine junge Frau in Ohnmacht unter diesem Blick. Das war nur einmal, und Jan Olieslagers dachte, daß es vielleicht auch eine andere Ursache haben könnte. Vielleicht. – Aber das war ganz gewiß, daß die Mädchen auswichen, sowie Stephe daherkam. Daß die Kinder – o nein, nie die Buben – sich verkrochen hinter den Röcken ihrer Mütter, daß die jungen Mütter ein Kreuz machten, wenn sie ihn sahen. Selbst alte Weiber fürchteten sich, schraken auf, stießen einen kurzen Schrei aus.
Das ging so weit, daß
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