Hans Heinz Ewers
die Mädchen in die Häuser lie fen, wenn Stephe durch die Straßen ging. Ob man darüber sprach in der Stadt, konnte Jan Olieslagers nicht feststellen, da er es vermied, mit jemandem dort zu reden.
Nur ein einziges Mal hatte diese seltsame Furcht für Stephe eine kleine Verdrießlichkeit zur Folge. Stephe kam von der Arbeit heim, sah ein Pärchen an einem Grabe stehn, einen Rekruten und sein Mädchen. Sie wandten ihm den Rücken zu, brachen ein paar Efeuranken. Plötzlich, als ob es seinen Blick gefühlt hätte, richtete sich das junge Mädchen rasch auf, wandte sich um, schrie auf. Der Soldat, der den Angstschrei hörte, seine Braut erbleichen und zittern sah, fragte: „Was ist’s?“ Sie wies auf Stephe und flüsterte: „Der da! Der!“ – Da ging er mit geballten Fäusten auf Stephe zu und schrie ihn an: „Du gottverdammter Schuft – wie wagst du es, meine Braut – meine – –“ Aber er sprach seinen Satz nicht zu Ende. Stephe erwiderte kein Wort, und sein Blick war so still und milde, daß kein Mensch etwas Freches oder Beleidigendes hätte finden können. Der Soldat unterbrach sich, ließ die Arme sinken, stammelte: „Verzeihung, Herr – es tut mir leid!“ – Stephe ging ruhig weiter.
Recht eigentlich bewußt war sich Stephe seiner seltsamen Macht kaum. Er wußte schon, daß es so war, aber er legte weiter keinen Wert darauf, bekümmerte sich nicht darum. Es ist wahr: Er lächelte – aber dieses Lächeln war sicherlich nicht das einer bewußten stolzen Befriedigung. Und nicht ein einziges Mal konnte Jan Olieslagers auch nur ein kleines Zeichen eines bewußten Herrscherwillens feststellen. Wenn er, in seinen Meditationen, Stephe den großen Herrscher im Totenlande von Andernach, den unentrinnlichen Tyrannen nannte – so war das doch nur aus seinem Hirn heraus und nicht aus dem Stephes empfunden. Kompliziert erschien das alles nur, wenn er es überdachte, doch wurde es einfach und natürlich, je mehr er versuchte, sich in Stephes Ideenwelt einzuleben. Wenn er alle Hemmungen ausschaltete – und das war ganz gewiß, daß Stephe nicht eine einzige hatte –, dann wurden diese Gedanken und Handlungen zu denen eines Kindes, eines stillen Kindes, das seine eigenen Spiele spielte. So seltsame, so ungeheuerliche freilich, daß sie dem Weltmanne Jan Olieslagers wie die Taten eines schwarzen Gottes erschienen.
Wie Knospen waren alle diese Frauen und Mädchen. Sie wuchsen und reiften und erschlossen sich zur vollsten Blüte – das war dann, wenn sie starben, heute eine und morgen wieder eine. War dann, wenn sie hinausfuhren aus der Stadt, hierher zu ihm, für den allein sie blühten, zu Stephe. Und Stephe, der die Blumen liebte, brach sie –
Dann welkten die Blüten – und Stephe warf sie fort. Vergaß sie, ganz und gar. Er kannte nicht einmal ihre Gräber, keines –
,Das ist sehr seltsam,’ dachte Jan Olieslagers. „Wo ruht die Carmelina Gaspari?“ fragte er. Stephe schüttelte den Kopf: „Ich weiß nicht.“
„Und wo die Milewa? – Oder die Anka Savicz?“
Nein, nein, nicht eines der Gräber kannte Stephe. Es fiel ihm nie ein, eines davon mit Blumen zu schmücken. Das war Sache der Gärtner – er war Totengräber. Aber: Er kannte gut die Ruhestätte des alten Deutschen Jakob Himmelmann oder die des Fabrikherrn J. T. Campbell – oh, eine ganze Reihe von Gräbern kannte er.
,Sehr untreu ist er!’ dachte Jan Olieslagers. Und überlegte:
,Ist ein Kind treu seinen Spielsachen? Es liebt sie mit aller Liebe – und wirft sie fort im nächsten Augenblick.’
Dann auch: ,Ist je ein Gott treu dem Tand, mit dem er spielt?’
Doch sich selbst ist der Gott getreu, wie es das Kind ist.
Und als, eines Tages, Stephe sich selbst untreu wurde, da fiel alle Göttlichkeit von ihm. Und alle Kindlichkeit.
Und er wurde ein Mensch. Und fühlte wie ein Mensch. Und tat wie ein Mensch.
Da zerbrach alles.
Das geschah im späten Indianersommer, der im Ägypterland sich bis tief in den November hineinzieht. Bis dahin lebte er, neben dem Menschen Olieslagers, sein eigenes Leben der Nacht.
Er fühlte sich leicht nach all seinen Beichten. Sein Freund war ein guter Beichtvater, und Stephe empfand wohl, daß er ihn lieb hatte grade um seiner Geheimnisse willen. Stets blieb er der Untergebene, stets erfüllte er dem Freunde jeden kleinsten Dienst, den er sich ausdenken konnte. Er suchte Pilze für ihn auf den Wiesen und große Brombeeren, stellte ihm Blumen auf seinen Tisch. Er merkte bald, wieviel Wert
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