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Hans Heinz Ewers

Hans Heinz Ewers

Titel: Hans Heinz Ewers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geschichten des Grauens
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Gedächtnis festgesetzt hatten, während andere höchst wichtige Geschehnisse ihm so völlig entschwunden waren, daß es gänzlich hoffnungslos erschien, sie ihm wieder zurückzurufen. Weder seines Vaters noch seiner Mutter Namen konnte sich Stephe erinnern, wohl aber des Namens eines der Lehrer seiner Schule – der dabei ihm selbst niemals Unterricht gegeben hatte. Einer Beschäftigung als Geschirrwäscher in einem Hotel in St. Louis – eine Stellung, in der er nicht drei Tage blieb, während welcher Zeit auch nicht das allergeringste Außergewöhnliche vorfiel – erinnerte er sich ganz ausgezeichnet, konnte genau beschreiben, wie der Raum aussah, in dem er beschäftigt war, wer mit ihm arbeitete, ja, er konnte die Marke auf den Tellern aufzeichnen – obwohl das nun vor elf Jahren geschehn war. Dagegen konnte er nicht zwei Sätze erzählen über sein Leben als Kuhjunge in Arizona, obwohl er dort es fast ein Jahr ausgehalten hatte, und das erst kurz, ehe er seinen Beruf als Totengräber fand.
    Über das, was Stephe ihm erzählte, machte sich Jan Olieslagers allabendlich Notizen, und allnächtlich ordnete und sichtete er das wachsende Material. Es schien ihm, als ob er an einer uralten Handschrift arbeitete, die in einem seltsamen Code geschrieben war, dessen Schlüssel kein Mensch kannte. Buchstabe auf Buchstabe mußte er mühsam erraten – fand dann ein Wort – und endlich einen Satz –
    Es ist wahr, daß dem Vlamen diese Arbeit eine große Freude machte – wie einem Forscher, dem es gelang, in tropischem Urwalde eine seltsame grauenvolle Blume zu finden. Eine, deren Name nur wenige wissen – und die nur selten in Jahrhunderten einmal einer gesehen hatte.hieß seine Blume.
    Der Staatsanwalt hätte von Verbrechen gesprochen, der Mediziner von Wahnsinn. Für Jan Olieslagers war es weder das eine noch das andere. Der Gedanke, die Taten Stephes moralisch oder gar ästhetisch zu werten, kam ihm gar nicht. Er begriff, daß, um sie zu verstehn, es nur eine Möglichkeit gab: die, mit Stephes Hirn zu denken und mit seiner Psyche zu fühlen.
    Und das versuchte er.
    So ist das, was der Vlame niederschrieb – ob es auch lückenhaft ist, ob es auch manche Fehler enthalten mag – , dennoch viel mehr aus der Seele Stephes entwachsen, als aus der Jan Olieslagers.
     
    Howard Jay Hammond aus Petersham, Mass. wußte wenig von Frauen. In der Zeit, als er noch als Heizer auf dem Michigansee fuhr, hatte er einmal mit Kameraden ein Bordell besucht. Jahre später, als er auf einer Kohlenmine in Kansas arbeitete, war er wieder in Beziehung zu einer Frau getreten. Er wohnte damals in dem einzigen Zimmer eines verheirateten Kameraden; der war richtiger Bergmann und hatte stets Nachtschicht tief in der Grube. Hammond aber arbeitete über Tage und tagsüber. Und es machte sich so, wie selbstverständlich, daß die Frau zur Nacht zu ihm ins Bett fand, wie zu ihrem Mann am Morgen. Sie war keineswegs jung oder schön – ganz und gar nicht.
    Noch ein– oder zweimal in seinem Leben hatte er, auf ganz kurze Zeit, eine Frau gekannt. Aber nie war ein Gefühl des Genusses, der Freude, der Liebe in ihm wach geworden.
    Das atmete erst und lebte – als aus Howard Jay Hammond der Totengräber Stephe wurde. – Eines Morgens – und die zarte Frühlingssonne küßte die jungen Blätter – stand Stephe in der Grube, in die er eben einen Sarg hinabgelassen hatte. Sonst hörte er nie zu, was der Geistliche sagte – an diesem Morgen lauschte er aufmerksam. Es schien ihm, als ob der Mann eine besondere Botschaft habe – gerade für ihn. Der Pastor sprach, was man so spricht am offenen Grabe. Aber dann kam das, was für Stephe bestimmt war.
    Oh, des Kummers der Eltern und des untröstlichen Witwers! Oh, der beiden kleinen, zurückgebliebenen Waisen! Oh, diese Blüte der Frauenschaft, von rauhem Sturmwinde gebrochen in jungen Jahren! Der fromme Mann überschlug die Stimme, wischte die Lippen, schluchzte sehr rührend und malte den Schmerz der Verwandten und Freunde und der ganzen Gemeinde. Gab ein Bild dieser jungen Frau, schilderte die Tugenden ihrer Seele: Wohltätigkeit und Frömmigkeit, Kindesliebe, Gattenliebe, Mutterliebe. Pries in glühenden Farben die Güte und die Schönheit und den seltenen Liebreiz der Verblichenen –
    Das war es.
    (Jan Olieslagers schrieb nieder: ,Ob diesem Seelenhirten wohl jemals die Erkenntnis dämmern wird, daß er der große Galeotto war? Er, der infamste Kuppler aller Zeiten?’)
    – Diese Phrase haftete in

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