Hansetochter
Sie waren doch wohlhabend, oder etwa nicht?
»Herrin, wir haben noch Durst«, sagte Jost und hob den leeren Krug. Der Kaufmannsgehilfe wirkte müde. Wie Simon war er vom Morgengrauen bis zum späten Abend bei Wind und Wetter am Hafen oder im Gewölbekeller beschäftigt.
Ilsebe Vresdorp pickte den Fisch von ihrem Teller am Herrentisch. »Dann geh zum Brunnen und schöpfe Wasser, du fauler Kerl«, befahl sie.
Jost sah aus wie vor den Kopf geschlagen. Gab es denn nicht einmal mehr Dünnbier für das Gesinde? Seine Aufgabe war das Wasserschöpfen eigentlich nicht, aber gegen den Befehl der Herrin konnte er nichts ausrichten, und so verließ er den Raum. Simons Base Telse starrte auf ihren Teller, still und fügsam wie immer. Ab und zu tauchte sie bei ihnen im Lager auf, aber sobald Nikolas oder ihr Vater um die Ecke bogen, verschwand sie wieder. Simon konnte es ihr nicht verdenken. Er steckte einen Bissen in den Mund und kaute lustlos. Entweder der Fisch war völlig fade, oder sein Schnupfen ließ ihn nichts mehr schmecken. Seit Wochen schon war er verschnupft, aber zumindest hatte ihn noch kein Husten oder das gefürchtete Fieber erwischt.
Wehmütig dachte er an seine Schwester. Wenn Henrike hierwäre, würde es wohl anders aussehen. Sie hätte ihm geholfen, ihrer Tante und ihrem Onkel etwas entgegenzusetzen. Oft schon hatte er daran gedacht, ihr zu schreiben. Aber wie sollte er den Brief an die Ostsee bekommen? Einen Boten hatte er nicht, und er kannte auch niemanden, der um diese Zeit dorthin fuhr. Wann sie wohl endlich wieder zurückkommen würde?
Neben ihm wurden jetzt Stimmen laut. Sein Onkel und sein Vetter unterhielten sich über die Versammlung im Ratskeller, die morgen Abend stattfinden sollte. Es ging um die anstehende Ratswahl und die nächsten Tagfahrten, also die Treffen der Vertreter der Hansestädte. Hartwig Vresdorp war beunruhigt deswegen, Nikolas hingegen schien ihm kaum zuzuhören. Sein Blick war auf den Gesindetisch gerichtet, wo die Mägde saßen. Mit einer Hand griff er zum Bierkrug, als Ilsebe ihm in den Arm fiel.
»Du hast genug«, sagte sie laut zu ihrem Sohn. Alle sahen auf, Simons Mundwinkel zogen sich unwillkürlich hoch. Endlich gebot jemand seinem Vetter mal Einhalt, auch wenn es nur um Bier ging. Nikolas machte sich los und schenkte sich ein, ihm konnte seine Mutter wohl nichts mehr befehlen. Simons Schadenfreude hatte er jedoch bemerkt.
»Junge, ich brauche dich im Gewölbekeller«, sagte Nikolas in einem gehässigen Ton an ihn gewandt. »Sobald dieses Mahl beendet ist.«
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Langsam stapfte Simon durch den Schnee in Richtung Hafen. In der Nacht hatte es geschneit, die Häuser und Schiffe sahen aus wie überzuckert. Er konnte sich kaum an dem Anblick erfreuen, zu sehr brannten die Striemen auf seiner Rückseite. Nikolas hatte seine Rache genüsslich ausgekostet. Sein Onkel hatte einmal zufällig in den Keller gesehen, seinen Sohn jedochgewähren lassen. ›Leiden und dulden‹ war für ihn wahrlich das Motto der Lehrzeit.
Simon zog seine Mütze tiefer über seine Ohren, doch das dumpfe Ziehen in seinem Inneren ließ nicht nach. Er erwarte eine Kogge, hatte Onkel Hartwig gesagt. Seit Tagen liege sie schon vor Travemünde. Sie würde wegen des Eisgangs an der Travemündung abgeladen werden, und ein anderes Schiff, einer der flachbodigen Prahme, werde dann die wichtigsten Waren nach Lübeck bringen. Heute würde es so weit sein, hatte Hartwig Vresdorp gemeint – aber das hatte er gestern auch schon gesagt, genauso wie vorgestern.
Simon sah sich um. Wie anders der Hafen im Winter aussah! Der Schnee war noch weiß und sauber wie frisches Linnen, nur wenige Menschen oder Tiere hatten bislang ihre Spuren in ihm hinterlassen. Am Uferrand, wo der Fluss dahindümpelte, hatte das Eis Krusten gebildet. Eisschollen trieben träge dahin. In der Sonne glitzerten die Schiffe wie Schmuckstücke. Arbeiter gingen den Winterarbeiten nach. Der Ladekahn, auf den Simon wartete, war jedoch nicht zu sehen. Auf der anderen Seite der Stadt würden sich die Kinder und Jugendlichen jetzt geschliffene Knochen unter die Füße binden und auf dem Eis dahingleiten. Er aber musste sich hier die Beine in den Bauch stehen!
»He, Simon!« Er drehte sich um, und ein Schneeball zerplatzte an seiner Brust. »Nicht der Schnellste heute Morgen, wie?« Liv grinste ihn an.
Simon bückte sich, obgleich es in seinem Rücken riss. Er formte einen Schneeball und traf Liv am Arm. Eine wilde Schneeballschlacht
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