Hansetochter
Schlittenbock. Asta gab Sasse noch einige letzte Anweisungen, er würde sie in den drei oder vier Tagen, in denen sie nicht da sein würde, vertreten. Dann setzte sie sich zu Henrike und breitete die Decken und Felle über sie. Griseus sprang auf und legte sich auf ihre Füße. Henrike ließ ihre Finger durch das flauschige Nackenfell gleiten. Asta hatte ihr den Wolfsspitz zum Geschenk gemacht, und sie war glücklich darüber. Griseus war ein geselliger, aber auch wachsamer Hund. Zuletzt beugte sich Katrine zum Abschied in den Schlitten und reichte ihr etwas – es war ein Gürtel. Überrascht entrollte Henrike ihn. Der Untergrund war blau gestickt, und auf diesem Meer – oder war es der Himmel? – schienen Schiffe und Sterne um die Wette zu tanzen. Henrike umarmte das Mädchen stürmisch.
»Er ist wunderschön!«, freute sie sich.
Katrine machte sich los. Sie biss sich auf die Unterlippe, sichtlich nervös. Offenbar gab es etwas, das sie unbedingt sagen wollte.
»Du hast den neuen Verwalter erlebt. Du weißt, was auf uns zukommt, wenn er die Herrin vertreibt«, sagte sie und warf Asta einen scheuen Blick zu. »Wir können nichts tun, um das zu verhindern. Aber du, du kannst es. Du bist die Tochter eines Kaufmanns. Dein Vater war reich. Du kannst lesen und schreiben und was weiß ich noch alles. Du darfst nicht zulassen, dass unsere Herrin den Hof verlassen muss!« Katrine war ganz rot vor Eifer geworden.
Henrike umschloss ihre Hände. Asta sah die beiden mit einem warmen Blick an.
»Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, das verspreche ich. Ich werde kämpfen. Für euch, für Simon und auch für mich.«
~~~
Wie im Flug glitt der Schlitten über die Hügel. Der Schnee hatte die Unebenheiten, die das Reisen mit dem Wagen so unbequem machten, einfach überdeckt. Wenn der Weg so bliebe, würden sie in einem halben Tag Lübeck erreichen. Henrike ließ sich gegen Asta sinken, und die alte Frau legte den Arm um sie. Lange, sehr lange hatte sie sich nicht so geborgen gefühlt. Der Schlitten kam hart auf, als er durch eine Senke fuhr. Die beiden Frauen wurden von ihrer Bank in die Luft geschleudert, kamen unsanft wieder auf. Schnee stob auf und puderte ihre Gesichter. Hasen hoppelten aufgeschreckt davon, ihre Läufe weit ausgestreckt. Griseus bellte aufgeregt und ließ sich nur schwer auf dem Schlitten halten. Asta lachte, Schneesterne glitzerten in ihren Wimpern. Henrike strahlte ihre Tante an. Das Leben hielt viele Prüfungen bereit; umso mehr sollte man solche Momente der Leichtigkeit genießen.
Es war dunkel, als sie die Stadt erreichten. Sie mussten den Torwächter regelrecht überreden, damit er sie noch einließ.
Als sie in die Alfstraße einbogen und sich ihrem Elternhaus näherten, wurde Henrikes Brust eng. Wie würde es Simon gehen? Was würden ihr Onkel und ihre Tante dazu sagen, dass sie ohne ihre Erlaubnis zurückgekehrt war? Nervös massierte sie ihre Hände. Die Brüche waren zwar wieder zusammengewachsen, die Finger aber waren geschwollen und steifer als zuvor. Griseus sprang hinunter und tänzelte aufgeregt, als der Schlitten vor dem Kaufmannshaus hielt.
Jost öffnete ihnen die Tür. Sein Mienenspiel veränderte sich schlagartig, als er Henrike erkannte. Freude, aber auch Kummer wechselten sich in schneller Folge ab. Henrike erschrak über seinen Anblick. Er wirkte schmal, Bartstoppeln umschatteten sein Gesicht.
»Jungfer Henrike, woher wusstet Ihr ...? Mein Versprechen ... es tut mir so leid, ich konnte nichts dagegen tun«, sagte er. Seine Worte schreckten Henrike.
»Woher wusste ich – was? Was ist denn nur los?« Schon lief Henrike hinein, bemerkte kaum ihre Tante und ihren Onkel, die nachschauten, wer zu so später Zeit gekommen war, hatte keinen Blick für ihren Vetter, der aus dem Keller trat, nahm auch nicht wahr, dass Asta zurückblieb, denn irgendwer musste ja die Hausbewohner begrüßen und für den Verbleib der Fässer und des Schlittens sorgen. Josts seltsame Begrüßung hatte sie zutiefst beunruhigt, sofort musste sie an ihren kleinen Bruder denken. Simon! Es war die Zeit der Kälte und des Fiebers. Wie oft war er schon ... Er musste in der Kammer sein ... Er durfte auf keinen Fall wie Vater ..., ging es Henrike durch den Kopf. Ihr Hals war wie zugeschnürt, als sie dem Gang zu seiner Kammer folgte. Kurz bevor sie die Tür erreicht hatte, ergriff jemand ihren Arm und riss sie hart zurück – Nikolas! Auf seiner Wange leuchtete eine Narbe,
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