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Happy Family

Happy Family

Titel: Happy Family Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Safier
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entgegen. Selbst wenn ich ihr einen Euro hätte geben wollen, hätte ich es nicht tun können, mein Dracula-Kostüm hatte zwar ein schönes Cape, aber keine Innentasche. Und eine Handtasche hatte ich nicht dabei, denn ein Vampir mit Handtasche wirkt nun mal höchstens halb so authentisch.
    «Du seien unglücklich mit Familie», stellte sie fest.
    «Du seien Blitzmerker», antwortete ich.
    Das Gute war, dass die Alte mich mit ihrem Gerede vom Heulen abhielt. Ich schnäuzte mich und hörte auf zu weinen, während sie sich den anderen angewidert zuwandte: «Ihr seien alle genauso unglücklich.»
    Den Blicken meiner Familie nach zu urteilen, fühlten sich alle ertappt. Mein Gott, hatte die zahnlose Frau recht? Waren meine Kinder und mein Mann genauso unglücklich wie ich? Da hätte ich am liebsten gleich wieder losgeheult. Noch lauter.
    Bevor jedoch meine Tränendrüsen aus der Arbeitspause kamen, erklärte die Bettlerin voller Pathos: «Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich. Jede unglückliche Familie jedoch ist auf ihre besondere Weise unglücklich.»
    «Hast du eine Ausgabe von
Anna Karenina
verschluckt?», fragte ich schwer gereizt, wusste ich doch, dass dieses Zitat von Tolstoi stammte. Meine Familie wusste nicht, wovon ich redete, sie kannte Tolstoi nicht, und jeder von ihnen wäre wohl auf Seite drei von
Anna Karenina
in einen Tiefschlaf gefallen.
    «Ich haben Tolstoi damals beim Schreiben geholfen», erklärte die Alte.
    «Das ist nicht möglich», erwiderte ich, wusste ich doch, dass er das Buch im vorletzten Jahrhundert verfasst hatte. Die Alte war zwar alt, aber so alt, dass sie damals gelebt haben könnte, war kein Mensch.
    Als Antwort lächelte sie fast zahnlos. Wissend. Überheblich. Etwas irre. Nein, streichen wir das «etwas» und ersetzen es durch «komplett». Mir wurde mulmig zumute, und ich forderte sie auf: «Verschwinde.»
    Sie antwortete nicht, grinste nur weiter. Dabei blickte sie mir durchdringend in die Augen, und ich hatte das fiese Gefühl, dass sie mir tief in meine Seele sehen konnte. Ich wollte mich abwenden, war aber von ihrem Blick gefangen. Ich konnte mich einfach nicht wegdrehen.
    «Verschwinde …», wiederholte ich schwach.
    «Du nicht schätzen dein Leben», verkündete sie abfällig.
    «Und du haben Begriffsstutz», konterte ich tapfer, bekam es aber zugleich richtig mit der Angst zu tun: Hatte sie mir etwa wirklich, wie ich gefühlt hatte, in die Seele geblickt?
    Dann ließ sie endlich von mir ab. Aber richtig durchatmen konnte ich nicht. Denn anstatt endlich abzuhauen und anderen Leuten Furcht einzujagen, wandte sie sich Max zu. Auch ihm blickte sie tief in die Augen, auch er konnte sich nicht von ihr abwenden, was ihm ebenfalls Angst bereitete. Nach ein paar unheimlichen Sekunden des Schweigens erklärte sie ihm: «Du fliehen vor Leben!»
    Da hätte ich ihr am liebsten recht gegeben, war Max ja wirklich jemand, der sich vom Leben zurückzog.
    Sie ging weiter, Max wankte beiseite. Darauf knöpfte sie sich Fee vor. Obwohl auch Fee am liebsten weggesehen hätte, konnte sie es auch nicht. Ebenso wenig wie Max oder ich.
    «Du haben keine Idee für dein Leben», erklärte sie Fee.
    «Dafür», konterte Fee, «rede ich nicht so, als ob ich ‹Yodas Jedi-Schule für freie Rede› besucht habe.»
    Obwohl die Alte ihr eine Heidenangst bereitete, versuchte sie, es sich nicht anmerken zu lassen. Allerdings mit wenig Erfolg: Fee knibbelte – wie immer, wenn sie nervös war – an ihren Fingern. Max hingegen verknotete seine Beine beim Stehen so, als ob er sich gleich in die Hose machen würde. Er war immer schon ein extrem ängstlicher Junge gewesen, hatte sich schon als kleines Kind vor allen möglichen Dingen gefürchtet: vor Clowns, vor Quallen am Strand, vor Shanty-Chören …
    «Lassen Sie unsere Kinder in Ruhe», stellte sich nun Frank vor die Verrückte. Ein Fehler. Denn nun geriet auch er in den Bann ihres hypnotischen Blickes. In seiner Seele – ich war mittlerweile so gut wie überzeugt, dass sie in die Seelen der Menschen sehen konnte – fand sie: «Du haben keine Emotion im Leben.»
    Nachdem sie dies gesagt hatte, musste Frank zittern. Wir alle zitterten. So hatte ich mir das mit dem «endlich mal wieder was gemeinsam machen» nicht vorgestellt.
    Die alte Bettlerin nahm ein Amulett aus der Tasche ihres zerrissenen Mantels. Es war aus Silber, der Knauf sah aus wie ein Katzenkopf, und auf ihm konnte man die Worte
Baba Yaga
lesen.
    Sie rief: «Ich bald

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