Happy Family
dem Gesicht, und sie erhöhte das Tempo: «Du mich nie einholen!», rief sie mir zu.
«Du pfeifen im Walde», erwiderte ich selbstbewusst und sprang gleich auf den nächsten Fenstersims. Dort sah ich durch das halboffene Fenster, wie ein Paar circa Anfang dreißig miteinander Sex hatte. Die Frau sah mich und sagte das, was ich an ihrer Stelle wohl auch gesagt hätte, nämlich: « AHHHHHHH !»
Der Mann, der mich noch nicht sah, motzte frustriert: «Jetzt übertreibst du es aber mit der Kritik an meinen Liebeskünsten!»
Die Frau deutete Richtung Fenster, dann drehte er sich um, sah mich und pflichtete ihr bei: « AHHHHHHH !»
Hilflos stammelte ich so ziemlich das Blödeste, was man in einer solchen Situation nur sagen kann: «Lassen Sie sich durch mich nicht stören. Machen Sie ruhig weiter.»
Die beiden starrten mich an, sahen erschrocken meine Reißzähne und machten nicht weiter.
Ich hingegen blickte nach oben, die Alte war schon im vierten Stock, noch eine Etage, und sie würde auf dem Dach sein. Ich ließ das Paar, das spätestens jetzt einen Sexualtherapeuten benötigen würde, zurück und sprang weiter an den Fenstersimsen hoch.
Als die Hexe das Dach erklomm, landete ich im vierten Stockwerk, direkt vor einem alten Alkoholiker, der mit Rotweinflasche in der Hand am offenen Fenster stand. Er trug eine weiße Unterhose und eins von jenen Feinrippunterhemden, von denen ich dachte, dass sie seit den 80er Jahren ausgestorben waren. Als er mich sah, bekam er überraschenderweise keinen Schreck, sondern meinte anerkennend: «Das ist mal was anderes.»
«Was anderes?», fragte ich und verbarg mit meinem Umhang meinen Mund, damit man meine Reißzähne nicht sah. Ich wollte ihm ja keine unnötige Angst einjagen.
«Sonst seh ich im Suff immer nur meine verstorbene Tochter.»
Ich bekam Mitleid mit dem betrunkenen Mann. Der Schmerz durch den Verlust seiner Tochter hatte ihn ganz offensichtlich in den Alkohol getrieben. Mir wäre es wohl auch so gegangen, hätte die Hexe tatsächlich meine Kinder getötet. Sicher wäre ich ebenfalls Säuferin geworden. Oder ich hätte mich gleich umgebracht.
Sanft antwortete ich: «Ich soll Sie von Ihrer Tochter grüßen. Es geht ihr im Himmel sehr gut.»
Der Mann lächelte darauf gerührt. Und ich lächelte hinter meinem Umhang auch etwas. In all dem Chaos hatte ich einen Moment der Menschlichkeit. Der traurigen Menschlichkeit. Aber immerhin.
Dann besann ich mich, dass ich noch etwas anderes zu tun hatte, machte zwei Sprünge und landete elegant auf dem Kies des Daches. Unter normalen Umständen hätte ich von hier die wunderbare Aussicht auf die Lichter Berlins genießen können – es hätte eigentlich nur noch ein Strandstuhl und eine Margarita gefehlt –, aber ich rannte der Hexe hinterher. Sie lief zum Rand des Daches. Gleich würde ich sie eingeholt haben. Selbst wenn sie das Haus wieder runtergehen sollte, würde ich schneller springen, als sie gehen könnte. Aber sie ging nicht runter, als sie an den Rand gekommen war. Sie blieb auch nicht stehen. Sie sprang auf das nächste Haus und rannte dort weiter. Hektisch erreichte ich den Rand und fragte mich, ob ich jetzt auch springen sollte. Mein neuer Körper konnte ja anscheinend so einiges. Aber die Distanz bereitete mir unglaubliche Angst. Einen Sturz aus dieser Höhe würde ich womöglich nicht überleben. In diesem Augenblick hätte mein Herzschlag im Akkord wummern müssen. Ich griff mir an die Brust. Aber da war kein Herzschlag zu spüren.
Ach du meine Güte, ich hatte kein Herz mehr!
Daraufhin packte mich eine noch größere Angst. Ich hatte keine Wahl: Ich musste die Hexe einholen, und dazu musste ich ihr hinterherspringen. Ich ging ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang. Gewaltig. Weit. Es war ein großartiges Gefühl. Wie fliegen!
Nach wenigen berauschenden Sekunden landete ich auf dem anderen Haus. Die Hexe war davon nicht begeistert und sprang auf das nächste. Ich folgte ihr. Es war eine Verfolgungsjagd über die Dächer von Berlin, und ich befürchtete, dass diese noch stundenlang so weitergehen konnte, hatte Berlin doch so einige Dächer. Aber ich durfte nicht lockerlassen, ich wollte, dass meine Familie wieder so würde wie noch vor wenigen Minuten, obwohl sie mir da nicht sonderlich attraktiv erschienen war. Eigentlich tat sie dies immer noch nicht. Aber es war allemal besser, als auf ewig wie die Addams-Family aus den Monstergeschichten zu sein. Andererseits: Die Addams waren im Gegensatz
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