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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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grässlichen Krallenfisch?«
    »Genau. Die Schwärzlinge glauben, dass dieser Fisch das Reich der Finsternis regiert. Dass er das Leben hier bestimmt, die Logik, das Wertesystem, alles, dass er Herr ist über Leben und Tod. Der Sage nach hat der Fisch dem Urahn der Schwärzlinge den Weg hierher gewiesen.« Das Mädchen richtete seine Lampe auf den Boden und deutete auf eine ungefähr zehn Zentimeter tiefe und einen Meter breite Spur, eine Art Graben. Er führte in schnurgerader Linie über das Plateau in die Finsternis. »Wenn man dem Graben folgt, kommt man zum alten Altar der Schwärzlinge. Wahrscheinlich hält sich Großvater da versteckt. Der Altar ist nämlich der heiligste Platz dieser Heiligen Stätte, dort wagt sich niemand hin, niemand; solange man sich da versteckt, ist man absolut sicher.«
    Wir marschierten in der schnurgeraden Spur weiter. Bald neigte sich der Weg, und die Wände zu beiden Seiten wurden immer höher. Ich hatte das Gefühl, sie rückten immer näher und würden uns im nächsten Augenblick zwischen sich zerquetschen, aber ringsum rührte sich nichts, es war unverändert still wie auf dem Grunde eines Brunnens. Nur das Knirschen unserer Gummisohlen erzeugte zwischen den Wänden ein merkwürdig rhythmisches Hallen. Unwillkürlich schaute ich ein paar Mal hoch in die Luft. Wer im Dunkeln wandert, sucht automatisch nach den Sternen und dem Mond.
    Doch natürlich leuchteten über uns weder der Mond noch die Sterne. Umso stärker lastete die Dunkelheit auf mir. Es regte sich kein Wind, die Luft stand. Alles kam mir bleiern vor und schwer wie nie zuvor. Selbst mein Dasein schien beschwert. Mein Atem, das Knirschen meiner Schuhe, die Armbewegungen, alles wurde zu Boden gezogen, war schwer wie Schlamm. Nicht unter der Erde schien ich mich zu befinden, sondern auf einem unbekannten Planeten irgendwo im All. Die Schwerkraft, die Dichte der Luft und mein Zeitgefühl, alles, alles war anders, als ich es kannte.
    Ich hob den linken Arm und ließ die Digitalanzeige meiner Armbanduhr aufleuchten. 2 Uhr 11. Obwohl ich mich also, da wir ziemlich genau um Mitternacht abgestiegen waren, erst zwei Stunden und ein paar Minuten in dieser Finsternis befand, hatte ich den Eindruck, ein Viertel meines Lebens im Dunkeln verbracht zu haben. Selbst das schwache Licht der Digitalanzeige schmerzte in den Augen, wenn ich länger hinsah. Offenbar passten sie sich nach und nach der Dunkelheit an. Auch das Taschenlampenlicht stach grell in die Augen. Wer sich länger im Dunkeln aufhält, empfindet die Dunkelheit als das eigentlich Normale und hält im Gegenteil das Licht für fremd und unnatürlich.
    Schweigend marschierten wir den engen, tiefen Graben entlang, immer weiter abwärts. Da es einfach nur geradeaus ging und keine Gefahr bestand, mir an der Decke den Kopf zu stoßen, knipste ich die Taschenlampe aus und lief immer nur dem Knirschen ihrer Gummisohlen nach. Bald wusste ich kaum noch, ob ich mit offenen oder geschlossenen Augen ging. Die Dunkelheit war in beiden Fällen dieselbe. Ein paar Mal lief ich mit geschlossenen, dann mit offenen Augen, nur um zuletzt überhaupt nicht mehr Bescheid zu wissen.
    Das Einzige, was ich wahrnahm, war das Knirschen der Schuhe des Mädchens, das mir in den Ohren hallte. Ein sehr befremdliches Hallen, wegen der Beschaffenheit des Bodens vielleicht oder wegen der Luft, wegen der Dunkelheit. Ich versuchte für mich, dieses Knirschen in Sprache zu übersetzen, aber es wollte mir nicht recht gelingen. Es klang wie eine mir unbekannte afrikanische oder arabische Sprache. Ins Lautsystem des Japanischen ließ es sich einfach nicht einpassen. Möglicherweise ginge es mit dem Französischen, dem Deutschen oder dem Englischen. Ich beschloss, es mit dem Englischen zu versuchen. Zuerst dachte ich, ich würde ein
    Even-through-be-shopped-degreed-well
    hören, doch als ich es so artikulierte, merkte ich, dass das Hallen völlig anders klang. Etwas genauer wäre
    Efgvén-gthouv-bge-shpèvg-égvele-wgevl.
    Fast wie Finnisch, aber mit Finnisch kannte ich mich leider überhaupt nicht aus. Rein semantisch hatte ich den Eindruck, das Ganze müsse ›Der Bauer stieß am Weg auf einen alten Teufel‹ heißen, aber das war nur ein Eindruck. Begründen konnte ich ihn nicht.
    Danach unterlegte ich dem Knirschen alle möglichen Sprachen und Texte. Und stellte mir vor, wie die rosafarbenen Joggingschuhe des Mädchens abwechselnd auf dem Boden auftraten. Die rechte Ferse setzt auf, das Körpergewicht verlagert

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