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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Haare, trugen dreckige Schuhe, lauschten psychedelischer Rockmusik, trugen ausgemusterte US-Parkas mit dem Peace-Zeichen auf dem Rücken und fühlten sich wie Peter Fonda. Das war vor langer, langer Zeit, als die Dinosaurier noch lebten. Ich versuchte, mir ein paar Ereignisse aus dieser Zeit in Erinnerung zu rufen, aber mir fiel absolut nichts ein. Deshalb stellte ich mir Peter Fonda auf seinem Motorrad vor. Und unterlegte das Bild mit Born to be wild von Steppenwolf. Born to be wild veränderte sich jedoch urplötzlich zu Sad rumors von Marvin Gaye. Vielleicht, weil die Anfangssequenzen so ähnlich sind.
    »Woran denkst du?«, fragte das dicke Mädchen von vorne.
    »An nichts Besonderes«, sagte ich.
    »Sing doch etwas!«
    »Lieber nicht.«
    »Dann schlag was anderes vor!«
    »Wir unterhalten uns einfach.«
    »Zum Beispiel worüber?«
    »Zum Beispiel über Regen.«
    »Das ist keine schlechte Idee.«
    »Kannst du dich an einen bestimmten Regen erinnern?«
    »Abends an dem Tag, als mein Vater, meine Mutter und meine Geschwister starben, hat es geregnet.«
    »Erzähl lieber etwas Lustiges.«
    »Nein, lass mich. Ich will davon sprechen«, sagte das Mädchen. »Außerdem habe ich sonst niemanden, mit dem ich darüber reden könnte … Aber wenn du es nicht hören willst, halt ich natürlich den Mund.«
    »Nein, wenn du davon sprechen willst, sprich«, sagte ich.
    »Es war ein feiner Nieselregen, man wusste kaum, ob es regnet oder nicht. Das ging von morgens an den ganzen Tag. Der Himmel war in immer dasselbe dunstige Grau gehüllt. Ich lag im Krankenhaus im Bett und starrte die ganze Zeit auf diesen Himmel. Es war Anfang November, draußen vor dem Krankenzimmer stand ein Kampferbaum. Ein großer Kampferbaum. Das Laub war schon zur Hälfte abgefallen. Durch die kahlen Äste konnte man den Himmel sehen. Schaust du dir gerne Bäume an?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Nicht, dass ich Bäume nicht mag, aber richtig aufmerksam habe ich mir noch keinen angeschaut.«
    Ich konnte, um ehrlich zu sein, keine Kastanie von einem Kampferbaum unterscheiden.
    »Ich betrachte gerne Bäume, von klein auf schon. Wenn ich Zeit habe, setze ich mich unter einen Baum, befühle die Rinde, schaue hoch ins Laub. Ich kann Stunden so zubringen. Der Kampferbaum im Garten vor dem Krankenhaus war ein ziemlich prächtiges Exemplar. Ich lag im Bett, auf der Seite, und sah mir den ganzen Tag durch die Äste hindurch den Himmel an. Am Ende kannte ich jeden einzelnen Ast. So wie sich Eisenbahnfreaks die Namen sämtlicher Linien und Bahnhöfe merken, weißt du? In dem Baum ließen sich oft Vögel nieder. Alle möglichen Arten. Stare, Würger und so. Und eine schöne bunte Art, die ich nicht kannte. Manchmal auch Tauben. Die Vögel kamen heran, ruhten sich ein Weilchen auf einem Ast aus und flogen wieder weg. Vögel sind sehr regenfühlig, wusstest du das?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Wenn es regnet, oder wenn Regen aufzieht, lassen sie sich in keinem Baum blicken. Sobald der Regen aber nachlässt, kommen sie heran und zwitschern um die Wette. Als ob sie das Ende des Regens feiern würden. Warum das so ist, weiß ich nicht. Vielleicht, weil nach dem Regen die Würmer aus der Erde kriechen. Vielleicht auch nur, weil sie Regen nicht mögen. Jedenfalls wusste ich so immer über das Wetter Bescheid. Kamen keine Vögel, zog Regen heran, kamen sie und zwitscherten, ließ der Regen nach.«
    »Warst du lange im Krankenhaus?«
    »Ja, einen Monat oder so. Ich hatte einen Herzklappenfehler und musste operiert werden. Das war eine ganz schwierige Operation, meine Familie hatte mich schon halb aufgegeben. Verrückt, nicht? Ich habe überlebt und bin kerngesund, und die anderen sind alle tot.«
    Sie marschierte schweigend weiter. Ich stellte mir ihr Herz vor, den Kampferbaum und die Vögel.
    »Der Tag, als die anderen starben, war auch für die Vögel ein harter Tag; sie kamen nicht zur Ruhe. Es fiel ja dieser feine Nieselregen, man wusste nicht, regnet es nun oder hat es aufgehört, und die Vögel verhielten sich entsprechend, sie flatterten heran und flogen wieder weg, in einem fort. Es war ein bitterkalter, vorwinterlicher Tag, im Krankenzimmer lief die Heizung, sodass die Fensterscheiben dauernd beschlugen und ich sie immer wieder abwischen musste. Ich stand auf, wischte mit einem Handtuch die Scheiben frei und kroch wieder ins Bett. Eigentlich hätte ich gar nicht aufstehen dürfen, aber ich wollte unbedingt den Baum, die Vögel, den Himmel und den Regen sehen.

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