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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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nicht zu sein«, sagte das Mädchen und verstaute den Plan wieder in der Brusttasche. »Kann man kaum als Berg bezeichnen. Es ist eher ein Hügel. Für die Schwärzlinge ist es aber Der Berg, hat mein Großvater gesagt. Der einzige unterirdische Berg. Der Heilige Berg.«
    »Den wir jetzt durch unsere Anwesenheit beschmutzen?«
    »Ganz im Gegenteil. Der Berg ist schmutzig. Hier konzentriert sich aller Schmutz. Das hier ist quasi eine in der Erdkruste versiegelte Büchse der Pandora. Und wir gehen jetzt mitten hindurch.«
    »Hört sich nicht so an, als ob wir je wieder lebend herauskämen.«
    »Nur Mut. Glauben musst du, dann flößt dir nichts auf der Welt mehr Angst ein, das hab ich dir doch eben gesagt. Ruf dir schöne Erinnerungen zurück, denk an Menschen, die du geliebt hast, an Zeiten, in denen du geweint hast, denk an deine Kindheit, an deine Zukunftspläne, an Musik, die du magst, egal was. Dann verschwindet die Angst.«
    »Geht auch Ben Johnson?«
    »Ben Johnson?«
    »Ein Schauspieler, der in alten Filmen von John Ford vorkommt, ein guter Reiter. Der reitet wie ein Gott.«
    Sie giggelte. »Du bist wunderbar. Ich mag dich wirklich sehr.«
    »Ich bin zu alt für dich«, sagte ich. »Außerdem kann ich kein einziges Instrument spielen.«
    »Wenn wir hier herauskommen, bringe ich dir das Reiten bei.«
    »Danke schön«, sagte ich. »Übrigens, an was denkst du eigentlich?«
    »An den Kuss vorhin«, sagte sie. »Deswegen habe ich dich ja geküsst. Wusstest du das nicht?«
    »Nein.«
    »Weißt du, woran mein Großvater hier gedacht hat?«
    »Nein.«
    »An nichts. Er kann seinen Kopf ganz leer machen. Genies können das. Wenn der Kopf ganz leer ist, kann das Böse nicht hinein.«
    »Aha«, sagte ich.
    Es ging, wie sie gesagt hatte, immer steiler bergauf, sodass wir schließlich beim Klettern die Hände zu Hilfe nehmen mussten. Ich dachte die ganze Zeit an Ben Johnson. Ben Johnson zu Pferde. Ich rief mir alle seine Pferdeszenen in Erinnerung. Ben Johnson in Fort Defiance, Ben Johnson in She Wore a Yellow Ribbon, in Wagonmaster und in Rio Grande. Die sonnenüberflutete Prärie, am Himmel blütenweiße, wie gemalte Wolkenstreifen. In den Tälern stehen Büffelherden, Frauen treten aus der Tür und wischen sich an weißen Schürzen die Hände ab. Ein Fluss, im Winde zitterndes Licht und singende Menschen. Durch diese Landschaft jagt wie ein Pfeil Ben Johnson. Und die fahrbare Kamera jagt mit, den stattlichen Reiter immer im Visier.
    Mit Händen und Füßen Halt im Felsen suchend, dachte ich an Ben Johnson und sein Pferd. Meine Schmerzen – ob es nun an Ben Johnson lag oder nicht – klangen auf wunderbare Weise ab, und ich kam voran, ohne ständig daran denken zu müssen, dass ich doch eigentlich verletzt war. So gesehen konnte an der Theorie des Mädchens, dass sich durch Eingabe eines speziellen Signals ins Bewusstsein körperliche Beschwerden lindern lassen, durchaus etwas dran sein.
    Bergsteigerisch gesehen hatte unser Aufstieg keinen hohen Schwierigkeitsgrad. Die Füße fanden Halt, die Felswand fiel nicht steil ab, und mit den Händen ließen sich immer irgendwelche Vertiefungen erreichen. Nach irdischen Maßstäben befanden wir uns auf einer Anfängerroute, und zwar einer, die ein Grundschüler sonntags morgens gefahrlos im Alleingang bewältigen konnte. In der unterirdischen Dunkelheit war das jedoch etwas anderes. Man sah ja nicht die Hand vor Augen! Man wusste nicht, was weiter oben kam, wie weit man noch zu klettern hatte, in welcher Position man gerade war, wie es unter einem aussah, ob man die richtige Route eingeschlagen hatte, nichts. Dass fehlende Sicht so viel Unsicherheit und Angst mit sich bringt, hatte ich nicht gewusst. Das kann einem unter Umständen das gesamte Wertefundament nehmen, einschließlich des dazugehörigen Selbstwertgefühls und jeden Mut. Wenn man etwas erreichen will, stellt man sich ganz natürlich immer dieselben drei Fragen: Was habe ich zu diesem Zweck bereits getan? Wo befinde ich mich zurzeit? Was habe ich noch zu tun? Wenn einem diese drei Wegmarken genommen werden, bleiben nur Unsicherheit, Angst und Erschöpfung. Genau das war der Zustand, in dem ich mich befand. Der technische Schwierigkeits- bzw. Leichtigkeitsgrad war nicht das Problem. Das Problem war, wie weit man sich zu beherrschen wusste.
    Wir kletterten weiter den dunklen Berg hinauf. Da ich nicht gleichzeitig die Taschenlampe halten und mit den Händen Halt suchen konnte, hatte ich die Lampe in die Hosentasche

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