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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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unmöglich.
    Wir standen lange so. Die Zeit raste dahin, doch ich empfand das nicht als Problem. In der Umarmung teilten wir unsere Angst. Das war das Einzige, was zählte.
    Schließlich presste sie den Busen fest an meine Brust, ihre Lippen öffneten sich, und ihre weiche Zunge und ihr warmer Atem füllten meinen Mund. Ihre Zunge leckte meine, und ihre Finger fuhren mir durchs Haar. Doch nach zehn Sekunden oder so war alles vorbei, löste sie sich mit einem Mal von mir. Eine bodenlose Verzweiflung überkam mich, ich fühlte mich wie ein in der Weite des Weltraums verlassener Astronaut.
    Ich knipste meine Taschenlampe an, da stand sie. Sie machte ihre Lampe ebenfalls an. »Gehen wir«, sagte sie. Dann drehte sie sich um und lief los wie zuvor. Ich spürte noch ihre Lippen auf meinem Mund. Und ich spürte noch das Pochen ihres Herzens an meiner Brust.
    »Ich küsse gut, oder?«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
    »Sehr gut sogar«, sagte ich.
    »Aber irgendetwas fehlt, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte ich. »Irgendetwas fehlt.«
    »Was denn?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich.

    Nach etwa fünf Minuten flachen, abschüssigen Weges kamen wir an einen weiten, leeren Platz. Es roch dort anders, und unsere Schritte hallten anders. Wenn man in die Hände klatschte, kam ein wie oval verzerrtes, mittig aufgeblähtes Echo zurück.
    Während sie den Plan befragte, leuchtete ich ringsum alles ab. Die Decke bildete eine Kuppel, der Platz einen entsprechenden Kreis. Einen vollkommenen, eindeutig künstlich geschaffenen Kreis. Die Wände waren glatt, es gab weder Vertiefungen noch Ecken und Kanten. Genau in der Mitte des Platzes wies der Boden eine flache Aushöhlung von ungefähr einem Meter Durchmesser auf, die mit einer unbestimmbaren, schleimigen Masse angefüllt war. In der Luft lag übler Geruch, nicht stechend, aber unangenehm wie aus übersäuerten Mündern.
    »Das scheint der Eingang zur Heiligen Stätte zu sein«, sagte das Mädchen. »Jetzt sind wir fürs Erste in Sicherheit. Weiter hinein können die Schwärzlinge nicht.«
    »Schön und gut, aber können wir wieder heraus?«
    »Das überlass nur meinem Großvater. Der findet bestimmt einen Weg. Außerdem haben wir dann zwei Signalgeräte, damit können wir die Biester auf Dauer in Schach halten. Während wir das eine benutzen, laden wir das andere auf. Dann haben wir nichts mehr zu fürchten. Und die Zeit läuft uns auch nicht mehr davon.«
    »Aha«, sagte ich.
    »Macht dir das nicht ein bisschen Mut?«
    »Doch, ein bisschen«, sagte ich.
    Am Eingang zur Heiligen Stätte hingen auf beiden Seiten sorgfältig herausgearbeitete Reliefs. Es waren jeweils zwei riesige, zu einem Kreis gekrümmte Fische, Maul an Schwanz und Schwanz an Maul. Geheimnisvolle Fische. Die Köpfe waren hoch gewölbt wie die Cockpithauben von Bombenflugzeugen, und statt der Augen wuchsen Ranken dicker Fühler heraus. Die Mäuler waren im Verhältnis zum Körper viel zu groß, sie zogen sich in einer geraden Linie fast bis zu den Kiemen. Unterhalb davon, direkt am Bauch, stand ein dickliches Organ hervor, wie der verbliebene Stummel eines beinamputierten Tieres. Zuerst dachte ich, es sei eine Art Saugwerkzeug, erkannte dann aber bei genauerem Hinsehen drei scharfe Krallen an der Spitze. Fische mit Krallen waren mir noch nie untergekommen. Die Rückenflossen hatten eine bizarre Form, und die Schuppen stachen heraus wie Dornen.
    »Ob das mythische Lebewesen sind, was meinst du? Oder gibt es die etwa wirklich?«, fragte ich meine Gefährtin.
    »Wer weiß«, sagte sie und klaubte wieder ein paar Büroklammern auf. »Jedenfalls haben wir uns nicht verlaufen. Komm, sehen wir zu, dass wir hineinkommen.«
    Ich folgte ihr, nicht ohne vorher noch einmal die Fischreliefs anzuleuchten. Dass die Schwärzlinge in dieser undurchdringlichen Finsternis dermaßen elaborierte Reliefs produzieren konnten, hatte mich einigermaßen geschockt. Und selbst die Tatsache, dass sie in der Dunkelheit sehen konnten, hatte mein Erstaunen beim Anblick der Werke nicht im Geringsten gemindert. Auch jetzt verfolgten sie vermutlich alle unsere Bewegungen.
    Im Sanktuarium führte der Weg leicht nach oben, und das Deckengewölbe wurde immer höher, bis es schließlich auch bei nach oben gerichtetem Licht nicht mehr zu erkennen war.
    »Jetzt kommt der Berg«, sagte das Mädchen. »Hast du Bergsteigererfahrung?«
    »Früher hab ich jede Woche eine Bergwanderung gemacht. Im Dunkeln bin ich aber noch nie aufgestiegen.«
    »So steil scheint er

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