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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Loch zu befreien. Als sie sicher war, dass ich nicht mehr in dem Loch hing, kam die Kleine heran und tastete mich am ganzen Körper ab, wie um festzustellen, ob auch nichts fehle.
    »Ich konnte dich nicht herausziehen, tut mir leid«, sagte sie. »Ich hatte alle Hände voll damit zu tun, mich da an dem Felsen festzuhalten; sonst wären wir beide in das Loch gefallen.«
    »Schon gut. Aber warum hast du nicht Bescheid gesagt, dass hier ein Loch ist?«
    »Dazu war keine Zeit. Ich hab aber doch Stopp! geschrieen.«
    »Hab ich nicht gehört«, sagte ich.
    »Jedenfalls müssen wir schleunigst hier weg«, sagte das Mädchen. »Hier gibt’s jede Menge von diesen Löchern, wir müssen sie vorsichtig umgehen. Es ist nicht mehr weit. Aber wenn wir uns nicht beeilen, saugen die uns das Blut aus und wir schlafen in den Tod.«
    »Die? Blut?«
    Sie richtete ihre Lampe auf das Loch, dem ich mit knapper Not entkommen war. Es war kreisrund, wie mit dem Zirkel gezogen, und hatte etwa einen Meter Durchmesser. Sie schwenkte ihre Lampe: Ringsum, soweit das Auge reichte, war der Boden von solchen Löchern übersät. Wie eine gigantische Honigwabe.
    Die steil beiderseits des Weges aufragenden Felswände waren verschwunden, vor uns erstreckte sich flaches Gelände mit Myriaden von Löchern. Das Wegnetz dazwischen hatte an den breitesten Stellen einen Meter, an den engsten nur etwa dreißig Zentimeter, schmale Grate, doch durchaus zu bewältigen, wenn man Obacht gab.
    Das Problem war, dass der Boden sich zu bewegen schien. Er bot einen sonderbaren Anblick. Der Untergrund, der doch hart und felsig sein musste, wand sich und waberte wie Treibsand. Zuerst dachte ich, ich hätte mir bei dem Sturz den Sehnerv verletzt, und strahlte deshalb mit der Taschenlampe meine Hand an. Doch sie zitterte nicht und verschwamm auch nicht. Es war meine gute alte Hand. Meine Augen waren also in Ordnung. Was sich bewegte, war tatsächlich der Boden.
    »Egel«, sagte das Mädchen. »Die kommen massenweise aus den Löchern. Wenn wir nicht voranmachen, saugen sie uns aus, bis wir Haut und Knochen sind.«
    »Na großartig«, sagte ich. »Ist das die große Gefahr, von der du gesprochen hast?«
    »Nein. Die Egel sind nur Vorboten. Das wirklich Schlimme kommt danach. Schnell!«
    Weiter durch das Seil verbunden, bahnten wir uns den Weg über den Egelfelsen. Die unzähligen, von den Gummisohlen meiner Tennisschuhe zerquetschten Egel ließen mich wie in Schlamm gehen, ein Gefühl, das von den Beinen bis in den Rücken hochkroch.
    »Pass auf, wo du hintrittst! Wenn du in ein Loch fällst, ist es aus! Da sind Massen drin, ein ganzes Meer von Egeln!«, sagte die Kleine.
    Sie klammerte sich an meinen Ellbogen, ich hielt sie am Saum ihrer Jacke. Im Dunkeln einen dreißig Zentimeter schmalen, glitschigen Grat entlangzuwandern ist kein Kinderspiel. Die zertretenen Egel klebten wie Gelee an den Sohlen, die Füße fanden keinen richtigen Halt. Ein paar Egel, die sich bei dem Sturz in meiner Kleidung festgesetzt hatten, saßen mir am Hals und an den Ohren und saugten, das spürte ich ganz deutlich, doch ich konnte sie nicht wegwischen. Ich brauchte beide Hände: In der linken hielt ich die Taschenlampe, und mit der rechten hatte ich den Jackensaum des Mädchens gepackt. Mit der Lampe leuchtete ich den Weg aus und musste dabei wohl oder übel die ganze Zeit auf Egel starren. Es waren so viele, dass einem schlecht werden konnte. Immer mehr, immer mehr krochen aus den schwarzen Löchern hervor.
    »Bestimmt haben die Schwärzlinge ihre Opfer früher in diese Löcher geschmissen«, sagte ich.
    »Brillant«, sagte sie. »Du bist ein kluges Köpfchen.«
    »Man tut, was man kann«, sagte ich.
    »Man hielt die Egel für die Sendboten des Fisches. Für seine Untergebenen sozusagen. Deshalb brachten sie auch den Egeln Opfer dar, wie dem Fisch. Schöne frische Opfer, mit viel Fleisch und viel Blut. Meistens waren es Menschen, die sie irgendwo aufgriffen und herschleppten.«
    »Heute existiert dieser Brauch doch nicht mehr, oder?«
    »Ich glaube nicht. Die Schwärzlinge fressen ihr Menschenfleisch lieber selbst. Als symbolisches Opfer, sagt mein Großvater, bringen sie den Egeln und dem Fisch höchstens noch die abgetrennten Köpfe dar. Zumindest seit man das hier zur Heiligen Stätte erklärt hat, kann ja auch kaum noch jemand her.«
    Wir umrundeten Loch um Loch und zertraten bestimmt Zehntausende von Egeln. Ein paar Mal wären wir beinahe ausgeglitten, sie oder ich, aber irgendwie schafften

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