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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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er war, ließ sich nicht feststellen. Er war zu groß, um die ganze Struktur auszuleuchten, und wir hatten auch gar nicht die Zeit dazu. Meine Gefährtin ließ nur kurz ihr Licht über den »Turm« gleiten, dann lief sie ohne jedes weitere Wort los und begann über eine Art Treppe, die an der Seite hochführte, mit dem Aufstieg. Ich sah natürlich zu, dass ich nachkam.
    Aus einiger Entfernung und im schwachen Lampenlicht hatte der »Turm« wie ein prächtiges, erhabenes, von Menschenhand über lange Jahre und mit bewundernswerter Kunstfertigkeit errichtetes Monument gewirkt, doch wenn man heranging und mit den Händen fühlte, merkte man, dass es bloß roher, ungeschliffener Felsen war, das zufällige Produkt natürlicher Erosion. Auch die von den Schwärzlingen angelegte Treppenspirale verdiente kaum den Namen. Die Stufen waren uneben und unregelmäßig, kaum breit genug für einen Fuß, und manchmal fehlten sie ganz. In solchen Fällen konnte man mit den Füßen Halt im Felsen suchen, doch da wir, um nicht abzustürzen, die Hände zu Hilfe nahmen und deshalb nicht jede Stufe ausleuchten konnten, kam es mehr als einmal vor, dass wir ins Leere traten. Für die Schwärzlinge, die im Dunkeln sehen konnten, mochte diese Treppe angehen, für uns war es ein unbequemer, ja gefährlicher Notbehelf. Wie Geckos klebten wir an der Wand und tasteten uns Stufe für Stufe nach oben. Auf der sechsunddreißigsten Stufe – ich bin ein notorischer Stufenzähler – hörte ich im Dunkeln unter mir ein merkwürdiges Geräusch, ein Klatschen, als würde ein gigantisches Stück Roastbeef mit Wucht an eine glatte Wand geschleudert. Ein flaches, feuchtes und finales Klatschen. Dann folgte, der das Drama ankündigende Taktstock quasi hoch in der Luft, ein interimistischer Moment widerwärtiger Stille. Ich hing in der Wand, die Hände fest in den Felsen gekrallt, und wartete auf das, was kommen würde.
    Was kam, war Rauschen, und zwar das Rauschen von Wasser. Es schoss aus den unzähligen Löchern, die wir eben hinter uns gelassen hatten. Das waren keine Pfützen. Ich musste an den Dokumentarfilm von der feierlichen Eröffnung eines Staudammes denken, den ich als Grundschüler gesehen hatte. Auf einen Knopfdruck des behelmten Gouverneurs – oder wer immer das gewesen sein mag – öffneten sich die Schleusen, und heraus tosten mächtige Säulen von Wasser und Gischt. Das war zu der Zeit, als man in den Kinos noch Nachrichten und Zeichentrickfilme zeigte. Ich hatte mir damals schaudernd vorgestellt, was wohl wäre, wenn ich aus irgendeinem Grunde dort unter den herausdonnernden Wassermassen stünde. Seitdem war ein Vierteljahrhundert vergangen, und die Vorstellung, dass ich jemals in eine solche Situation geraten könnte, fiel mir nicht leicht. Kinder neigen zu der Annahme, dass bei allen denkbaren Katastrophen ein Schutzengel über sie wacht und sie am Ende rettet. Jedenfalls dachte ich das, als ich klein war.
    »Wie hoch steigt denn das Wasser?«, fragte ich die Kleine, die ein paar Stufen über mir war.
    »Hoch«, gab sie kurz und bündig zurück. »Wenn wir nicht ertrinken wollen, müssen wir höher. Bis ganz oben steigt es jedenfalls nicht. Mehr weiß ich auch nicht.«
    »Wie viele Stufen sind es noch bis oben?«
    »Viele«, sagte sie. Eine nette Antwort, danke schön.
    So schnell es eben ging, kletterten wir die Spirale des »Turms« hinauf. Vom Rauschen des Wassers zu urteilen, musste der »Turm«, an dessen Wand wir hingen, mitten aus der weiten, zu allen Seiten von Egellöchern übersäten Ebene aufragen. Wir erkletterten also sozusagen den mitten in einem überdimensionalen Springbrunnen errichteten Zierstab. Und der Platz um den Brunnen, das heißt die weite Ebene, verwandelte sich, wenn das Mädchen Recht hatte, in ein überschwemmtes Moor, aus dem als Insel nur der obere Teil des »Turms« beziehungsweise seine Spitze herausragte.
    Das Licht der auf den Hüften des Mädchens tanzenden Lampe zeichnete ein wirres Muster in die Dunkelheit. Ich kletterte allein dieser Lichtquelle nach. Das Stufenzählen hatte ich irgendwann aufgegeben, doch hundertfünfzig oder zweihundert hatten wir bestimmt schon erklommen. Das anfängliche Tosen des Wassers schwächte sich zum Rauschen eines Wildbaches und dann zu einem Murmeln ab. Das Wasser stieg, keine Frage. Wie hoch es schon stand, konnte ich nicht sehen, aber es hätte mich nicht gewundert, es jeden Moment kalt an den Füßen zu spüren. Ich kam mir vor wie in einem bei schlechter Laune

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