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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Rocklängen, Schallplattenkritiken, Makleranzeigen, alles.
    Das Problem war: Ich hatte gar keine Zeitung abonniert. Ich las schon ungefähr drei Jahre keine Zeitung mehr. Warum ich damit aufgehört hatte, weiß ich selbst nicht genau, jedenfalls las ich keine mehr. Vielleicht, weil Zeitungsartikel und Fernsehprogramme in meinem Leben keinen Platz haben. Mein einziger Bezug zur Welt sind die mir zugeteilten Zahlen, die ich im Kopf in andere Werte transformiere, und in meiner Freizeit lese ich alte Romane, sehe mir auf Video Hollywoodschinken an und trinke Bier und Whiskey dazu. Zeitungen und Zeitschriften durchzusehen ist nicht nötig.
    Doch in dieser Welt des verlorenen Lichts, in dieser unsinnigen Dunkelheit, inmitten unzähliger Löcher und umgeben von Myriaden von Egeln, verlangte es mich unbändig nach einer Zeitung. Ich würde mich an einem sonnigen Plätzchen niederlassen und sie von vorne bis hinten durchlesen, jeden einzelnen Buchstaben, so wie ein Kätzchen Milch vom Teller schleckt. Ich würde die kunterbunten Splitter und Fragmente des Lebens, das die Leute unter der Sonne führten, in mich aufsaugen und jede einzelne Zelle meines Körpers damit netzen.
    »Da vorne ist der Altar«, sagte das Mädchen.
    Beinahe wäre ich ausgeglitten, deshalb gelang es mir nicht, die Augen zu heben. Doch von welcher Form und Farbe der Altar war, würden wir sowieso erst sehen, wenn wir dort anlangten. Ich kratzte die Reste meiner Konzentration zusammen und ging vorsichtig weiter.
    »Noch zehn Meter oder so«, sagte das Mädchen.
    Wie auf Kommando war das aus den Löchern gedrungene Röcheln mit einem Mal weg. So urplötzlich und unnatürlich, als hätte jemand in der Tiefe der Erde mit einem gigantischen Beil die Tonquelle auf einen Hieb zerschlagen. Ohne Vorzeichen und ohne jeden Nachhall war das aus der Tiefe gequollene, in den Ohren sausende, alles beherrschende Geräusch von einem Augenblick zum anderen weg. Man hätte glauben können, nicht das Röcheln, sondern der Raum, in dem es hallte, an sich wäre verschwunden. Das Geräusch verschwand derart plötzlich, dass ich für einen Augenblick das Gleichgewicht verlor und beinahe gestürzt wäre.
    Um uns herrschte fast schmerzhafte Stille. In der Dunkelheit plötzlich einsetzende Stille ist schlimmer als jedes noch so widerwärtige Geräusch. Auf Geräusche, welche auch immer, können wir uns einstellen. Doch Stille ist null, ist nichts. Sie existiert nicht, und doch hüllt sie uns ein. Auf meinen Ohren lastete ein Druck, als hätte sich die Atmosphäre verdichtet. Sie wussten auf die plötzliche Veränderung nicht recht zu reagieren und arbeiteten auf Hochtouren, um aus der Stille irgendwelche Signale herauszufiltern.
    Doch die Stille war vollkommen. Das Röcheln war weg, es kam nicht wieder. Wir beide verharrten und lauschten. Um den Druck in den Ohren loszuwerden, schluckte ich, doch das wirkte kaum; es gab nur ein unnatürlich lautes Knacken, wie wenn bei einem Plattenspieler die Nadel den Teller berührt.
    »Ist das Wasser zurückgegangen?«, fragte ich.
    »Nein, es kommt jetzt erst«, sagte sie. »Das Gurgeln kam von der in den Windungen des Wasserlaufs gestauten Luft, die durch den Druck herausgepresst worden ist. Jetzt hält das Wasser nichts mehr auf.«
    Sie nahm mich an der Hand, und wir umrundeten die letzten Löcher. Die auf dem Felsboden umherkriechenden Egel, vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, waren weniger geworden. Nach fünf, sechs Löchern standen wir wieder auf flachem, festem Grund. Keine Löcher mehr, keine Egel. Sie waren anscheinend in die andere Richtung geflüchtet. Das Schlimmste hatte ich hinter mir. Der Wassertod war allemal besser, als in einem Loch voller Egel zu verrecken.
    Fast automatisch griff ich mir an den Hals, um die dort sitzenden Egel abzulösen. Doch das Mädchen packte meinen Arm und hielt mich davon ab.
    »Später«, sagte sie. »Zuerst müssen wir den Turm hoch, sonst ertrinken wir.« Sie eilte voran, mich weiter am Arm gepackt. »Von fünf, sechs Egeln stirbst du nicht, außerdem reißt du dir die ganze Haut mit ab, wenn du’s mit Gewalt versuchst. Weißt du das nicht?«
    »Nein«, sagte ich. Ich bin blöd wie eine Boje.
    Nach zwanzig, dreißig Schritten hielt sie mich am Arm zurück und leuchtete mit ihrer großen Handlampe den riesigen »Turm« ab, der vor uns in die Höhe ragte. Glatt, zylindrisch und kerzengerade ragte er in das Dunkel über uns. Er verjüngte sich nach oben hin wie ein Leuchtturm, doch wie hoch

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